Wally sitzt in ihrem Zimmer im Paraplegikerzentrum Rehab Basel und schaut nach draussen. Schnee liegt auf den Dächern, der Nebel hängt tief. Wally schaut einfach nur, ab und zu blinzeln die hellblauen Augen mit den braunen Sprenkeln.

Früher – früher war Wally Zimmerli in der Welt da draussen zu Hause; immer in Bewegung. Fuhr Velo, rannte, gewann Stadtläufe und Duathlons. Heute sitzt sie im Rollstuhl. Früher war Wally ehrgeizig, trainierte stundenlang. Heute muss sie aufgefordert werden, um immer wieder zu üben: Socken anziehen, Schuhe binden, auf die Toilette rutschen. Früher war Wally neugierig, verfolgte die Politik, las Zeitungen und sah sich jeden Tag die «Tagesschau» an. Heute interessieren diese Dinge sie nicht mehr; sie beschäftigt sich vor allem mit sich selbst, erzählt viel von ihrer Jugend. Früher war sie ein impulsiver Mensch, regte sich oft auf über Unpünktlichkeiten, war knausrig. Heute ist Wally gelassen, hat das ewige Lächeln einer Sphinx auf dem Gesicht.

Wally und ihr Mann Hansi machen eine Velotour. In einer Kurve passiert es. Wally biegt nicht ab, fährt geradeaus, ins Hinterrad von Hansis Velo. Sie stürzt, verletzt sich schwer, muss mit der Rega ins Spital geflogen werden. Diagnose: geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma, Frakturen und Blutungen im Hirn. Wally wird operiert, das Schädeldach wird geöffnet. Sie liegt im Koma. Auch nach Tagen und Wochen wacht sie nicht auf. Bis im Mai 2008 wird Wally im Wachkoma liegen. Mit offenen Augen, selbständig atmend – aber doch: im Koma, isoliert von der Aussenwelt.

Wally steht an einem Tisch in der Klinik Rehab Basel. In Turnschuhen, hält sich an der Tischplatte fest. Ihre Hände liegen auf der Ablage, runzlig und zerbrechlich. Mit der Rechten stützt sie sich auf der Tischplatte ab. In der linken Hand hält sie einen Tennisball. Fest umklammert. Die linke Körperhälfte funktioniert besser, auch wenn Wally eigentlich Rechtshänderin ist. «Ich war nie gut mit Ballspielen», sagt sie zu ihrem Mann, der bei der Therapiestunde dabei ist. Das ist Wally – auch in den angespanntesten Momenten macht sie Witze, bringt die Leute zum Schmunzeln. Ihre Stimme ist leise, etwas brüchig und undeutlich. Wally lächelt. Ein breites Lächeln, das goldene Schrauben in ihrem Mund zeigt.

Als Wally im Mai 2008 aufwachte, kam sie zuerst in ein Pflegeheim. Seit Mitte Oktober lebt die 66-Jährige im Rehab Basel, trainiert. Mit dem intensiven Förderungsprogramm in der Klinik soll Wally wieder einigermassen selbständig werden. Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, Rekreation: Das Programm ist straff. Sie ist vor ein paar Tagen erstmals allein von ihrem Rollstuhl aufs WC gerutscht – das ist ein riesiger Erfolg für Wally, für ihre Familie und ihre Therapeuten. «Es ist schon streng, aber ich werde nicht ungeduldig», sagt die 66-Jährige. Wenn sie den Gang aufs WC routiniert selbst schafft, kann sie nach einigen Monaten vielleicht nach Hause. Doch auch dann wird ihre Betreuung für Wallys Familie ein Vollzeitjob.

Wallys Mann Hansi spricht wenig. Ein paar Stunden zuvor in der Cafeteria sieht sein Gesicht bekümmert aus, er kneift die Augen zusammen und denkt nach. «Es braucht wahnsinnig viel Geduld», sagt der 68-Jährige. Geduld, das Tempo drosseln. Den beiden Sportlern Wally und Hansi scheint das schwerzufallen. Früher waren sie immer die Schnellsten, Geschwindigkeit war ihr Massstab für gut oder schlecht. Sich Zeit nehmen – das ist nicht einfach für sie. Hier in der Klinik ticken die Uhren anders. Alles passiert Schritt für Schritt oder vielmehr Bewegung für Bewegung. Und man kann nichts machen, damit es schneller vorwärtsgeht.

Vor 17 Jahren zogen sich die beiden aus dem Berufsleben zurück, machten ihre Bäckerei zu. Hansi war 51, Wally 49 Jahre alt. «Es war eine lange Zeit, die wir genossen haben», sagt Hansi. «Wir hatten unser Ziel erreicht.»

Der Unfall passierte an einem Dienstag. Am Mittwoch begann Hansi mit den Vorbereitungen für die Basler Uhren- und Schmuckmesse, die er mit Gebäck belieferte. Ab und zu backt er noch für spezielle Anlässe. «Das war gut, so konnte ich die Sache ein bisschen verdrängen», sagt er. Am meisten habe ihm die Leere zu Hause zu schaffen gemacht. Schliesslich hätten sie 40 Jahre lang kaum etwas allein gemacht.

Nein, die Hoffnung habe er nie aufgegeben. Im Kopf sei Wally schon nicht mehr ganz wie vorher. Aber man könne gut mit ihr reden, das sei wichtig. «Warum gerade ich?», das frage sich seine Frau schon immer wieder. Doch meist könne sie ihr Schicksal gut akzeptieren. «Sie ist stark», sagt Hansi. Und – vielleicht merkt er selbst es nicht – auch Hansi ist stark. Hinter seiner Stille muss sie irgendwo sein: die Trauer, die Wut, die Enttäuschung über den Zustand seiner Frau. Sie ist für einen Sekundenbruchteil zu erahnen, wenn Hansi über Wallys Wange streicht und sein Lächeln dabei etwas bekümmert scheint. Zu sehen ist aber nur die Liebe, die bedingungslose Liebe.

Wally spricht nie von Koma. «Als ich bewusstlos war» nennt sie die Zeit, die sie nicht miterlebt hat. Dass zwischen Unfall und Erwachen mehr als ein Jahr lag – so richtig kann das Wally nicht glauben. Wären da nicht die grossen Narben auf ihrem Kopf. Blassrosa Wundgewebe, das durch die feinen hellbraunen Haare schimmert. Viermal wurde sie in den letzten 18 Monaten operiert.

Wally kann nicht essen, der Tropf mit der Flüssignahrung ist ihr ständiger Begleiter. «Ich verspüre auch gar kein Hungergefühl», sagt sie. Früher habe sie gerne Apfelwähen gegessen. Jetzt kann sie nicht schlucken, der Speichel rinnt ihr oft über das Kinn. Aber es wird besser. In der Therapiestunde habe sie das Kauen und Schlucken geübt. Dazu beisst sie auf in Gaze eingewickelten Aprikosen, Feigen und Datteln herum.

«Heute habe ich zum ersten Mal Magenknurren gehabt», erzählt Wally. «So laut, dass es sogar die Therapeutin gehört hat.» Sie grinst. Es ist ein anderes Grinsen als das Sphinxlächeln, das sonst immer ihren Mund umspielt. Ein stolzes Grinsen, ein zuversichtliches Grinsen – Wally merkt, dass sie vorwärtskommt. Irgendetwas in ihrem Körper beginnt wieder zu arbeiten. Stück für Stück, und nach monatelangem Training erwachen die Muskeln und Organe wieder aus ihrem Schlaf.

Wally erzählt von ihren Töchtern. Nicole und Sandra. Eine der ersten Erinnerungen ist, wie Nicole sie besuchte. «Ich sagte ihr, dass ich lieber sterben würde.» Sie wollte niemandem zur Last fallen. Nicole begann zu weinen: «Mami, sag doch nicht so etwas.» Während Wally erzählt, füllen sich ihre Augen mit Tränen. Sie tupft sie sich mit ihrem Tüchlein vom Gesicht, tupft sich den Speichel von ihrem Mund. Heute denke sie nicht mehr so. Nein, heute nicht mehr – und Wally lächelt wieder. Sie sei froh, dass sie wieder aufgewacht sei. Dieses zweite Leben, «es ist wie ein Geschenk», sagt Wally.

Wallys Tochter kommt zu Besuch. Nicole betrachtet im Aufenthaltsraum die perlmuttfarben lackierten Fingernägel ihrer Mutter. Streicht über sie und lächelt. Von der stets auf Äusserlichkeiten bedachten Wally war seit ihrem Unfall nichts mehr zu sehen. Die Wally, die immer sorgfältig geschminkt war, die ihr Haar blondierte und ihre Kleidung überlegt auswählte, diese Wally ist seit dem Unfall verschwunden.

«Ich erschrak, als ich sie zum ersten Mal sah: Aufgedunsen und kahl rasiert – die ganze Schönheit und Lieblichkeit war weg», sagt die 35-jährige Nicole. Lange Zeit habe sie den Zustand ihrer Mutter nicht akzeptieren können. «Es gab Phasen, in denen ich dachte: ‹Ich muss mich einfach damit abfinden.›» Und doch – die Ungewissheit und Trostlosigkeit machten dieses Jahr zum schlimmsten in Nicoles Leben.

Als ihre Mutter verunfallte, war Nicole im vierten Monat schwanger. Im September 2007 kam Jan zur Welt, Wally lag im Koma. «Ich legte ihn ihr in die Arme. Sie zeigte keine Reaktion, hielt ihn, als wäre es ein Pfünderli Brot.» Nicoles Stimme zittert.

Die ersten Bewegungen und Sprechversuche im Frühling habe sie verhalten wahrgenommen, erzählt Nicole. «Man wird sehr vorsichtig, versucht, nicht zu enthusiastisch zu sein.» Doch als es später aufwärtsging, hätte Nicole die ganze Welt umarmen können. Auch wenn noch immer die Angst da war, dass Wally unglücklich bleibt und gar nicht leben mag.

Ihre Mutter ist nicht mehr die gleiche wie vor dem Unfall. Sie ist friedlicher, mischt sich nicht mehr so sehr ins Leben ihrer Töchter ein. Die tiefen Gespräche gibt es nicht mehr, Konfliktsituationen auch nicht. Was in dem Jahr ihrer Bewusstlosigkeit passiert ist, dafür interessiere sich ihre Mutter nicht. Die anfängliche Distanziertheit habe ihr zu schaffen gemacht – nun besucht sie Wally bewusst ab und zu ohne ihre Kinder. «Wenn wir allein sind, können wir besser reden», sagt Nicole. Sie sei stolz auf sie, auch stolz auf ihren Vater. Er zeigt kaum, wie es ihm geht. Aber er kümmert sich gut um sie, in dieser schwierigen Zeit. Viel mehr, als die Töchter es ihm zugetraut hätten.

Birgit Gürtler ist Wallys Bezugspflegende. Seit Oktober verbringt sie viel Zeit mit ihr. Sie sieht Wally auch in den schwachen Momenten, etwa wenn sie morgens nicht aus dem Bett kommen will. Sie kennt aber auch Wallys unbändigen Willen. «Sie hat eine Stärke in sich, die sie trägt», sagt Gürtler. Zudem besitze Wally eine Engelsgeduld, zum tausendsten Mal winzige Bewegungsabläufe zu üben.

Selten sei sie unglücklich – und dann helfe meist ein liebes Wort, ein schönes Musikstück aus dem Radio. Wally sei viel weiter gekommen, als es ihr anfänglicher Zustand hätte vermuten lassen. «Sie ist motiviert und hatte klare Ziele: Gehen und Schlucken lernen – auch wenn sie anfangs noch recht weit davon entfernt war», sagt Gürtler. Mittlerweile sei sie schon viel beweglicher, beinahe kontinent und spricht verständlicher. Doch die Sache mit dem Gehen – das ist noch immer ein Fernziel. «Ob und wann das kommen wird, das ist noch völlig unklar», sagt Birgit Gürtler.

Die Präsenz der Familie sei sehr stark zu spüren. Abends übernehme Hansi fast das ganze Pflegeprogramm, bringe seine Frau ins Bett. Diese Nähe fördere Wally – überfordere sie manchmal aber auch. «Die Erwartungen sind sehr hoch», sagt Gürtler. Dieser Druck sei nicht immer einfach gewesen, anfangs habe Wally deswegen viel geweint.

Allgemein schwankten ihre Stimmungen oft. Dass die Emotionen schwieriger zu kontrollieren sind, liege wohl auch an ihren Hirnverletzungen. Doch dass sie Angst vor der Zukunft hat – das sage Wally nur selten. Könne sie nur selten sagen.

Wann kann Wally nach Hause? Sie und Hansi sitzen später zusammen im Aufenthaltsraum der Station. Die ehemalige Komapatientin freut sich, wieder heimgehen zu können, irgendwann, bald. Wieder neben Hansi einzuschlafen, ihn zu spüren. Darauf freut sich auch Hansi. «Jeden Abend wenn ich fortgehe und sie hier zurücklasse, tut es mir weh», sagt ihr Mann.

Wally erzählt viel von der Vergangenheit, wenn man sie lässt. Sie erinnert sich sehr genau an manche Dinge. Ja, an die Dinge, an die sie sich erinnern kann, erinnert sie sich ganz genau. Es ist nur nicht klar, wie viele Erinnerungen überhaupt noch da sind. Wo sie aufhören, wo sie wieder beginnen.

Seit sieben, acht Monaten ist Wally wieder bei Besinnung. «Eine klare Linie zwischen wach und bewusstlos gibt es nicht», sagt sie. Ihre erste Erinnerung? Wally denkt nach. Schüttelt den Kopf. Nein, so genau kann sie das nicht sagen. Wallys Mann Hansi kann das für sich genau sagen. Er sei Ende Mai zu einer Velotour mit Kollegen aufgebrochen. Vor seiner Abfahrt besuchte er Wally, habe sie im Rollstuhl an den Rhein geschoben. Bereits in den Wochen zuvor habe Wally auf Besucher zu reagieren begonnen. Sie angesehen, mit ihrem Blick verfolgt, zu sprechen versucht.

«Anfangs geiferte ich nur», sagt Wally über diese Zeit. Sie weiss nicht mehr, was sie sagen wollte, damals. Doch das spiele auch keine Rolle. «Sie konnten mich ja nicht verstehen, darum habe ich einfach nichts mehr gesagt.» Bis zu diesem Tag am Rhein. Hansi erinnert sich, er habe Wally gefragt, ob es nicht schön sei hier. «Und Wally hat gesagt: ‹Ja, wunderschön.› Gehört habe ich das nicht wirklich, aber ich konnte es von ihren Lippen ablesen.»

Wally lebt noch immer in der Klinik. Ihr Aufenthalt wurde bis mindestens Ende März verlängert. Sie kann mittlerweile nachts allein auf die Toilette gehen, doch bis sie wirklich selbständig gehen kann, wird es wohl noch ein bisschen dauern. Der grösste Fortschritt ist, dass Wally nun allein isst. Sie löffelt jetzt ohne fremde Hilfe Suppen, Brei und Joghurt.