Die Polka ist pfiffig, das Saal-Licht warm. Thomas tanzt. In kleinen Schritten wippt er von einem Bein aufs andere. Thomas tanzt Wange an Wange mit Yvonne, mit Maya, Esther, mit Karin und mit den beiden Monikas. Er spricht wenig. Die Band spielt «Hey, Trompeteheinz», «De Lugipfupf», «I öisem Beizli». Im Treff der Behindertenorganisation «Insieme Zürich» steigt die monatliche Stubete. «Insieme» ist mit 56 Vereinen der grösste Freizeitanbieter für Behinderte im Land.

In der Schweiz leben 65'000 geistig behinderte Erwachsene. Auch sie als so genannte Randgruppe sind von der Liberalisierung der Sitten betroffen: Die Sexualität der Behinderten wird als ernst zu nehmendes Bedürfnis anerkannt. Betreuer, Behörden und Angehörige stehen damit vor neuen Aufgaben. Die Autonomie der Behinderten soll gefördert werden. Wo aber braucht es nach wie vor Kontrolle?

Thomas geht sehr oft in den Ausgang. Er wohnt im Wohnhaus der Stiftung Humanitas in Rüschlikon. Die Bewohner und Bewohnerinnen leben in Einzelzimmern; die Partnerwahl ist grundsätzlich frei. Kari Dähler, Heimleiter: «Wir sind den Menschen, die wir betreuen, verpflichtet. Das Zusammenleben wird gefördert; die Sexualität wird bejaht. Dies hält auch unser Leitbild fest.»

Problematisch können Beziehungen werden, wenn ein Gefälle im Behinderungsgrad besteht. «Vor allem wenn die Frau dem Mann deutlich unterlegen ist, muss die Verbindung sehr wach begleitet werden», sagt Heimleiter Dähler. «Wir legen grossen Wert darauf, dass sich die Menschen ebenbürtig sind.» In Rüschlikon kam es aber noch nie vor, dass einem Paar das Zusammensein verboten wurde.

Thomas, 48 Jahre alt, ist lebensfroh, von kleiner Statur, er plaudert gern, liebt seine Tabakpfeife und den Kaffee. Er hat zahlreiche Bekannte. Seine jetzige Freundin lernte er über ein Inserat in der Zeitschrift «Insieme» kennen. Sie hatte ihren früheren Freund verlassen, nachdem er erklärt hatte, die Hochzeit sei schon organisiert und der Pfarrer auch. «Da kam sie zu mir. Jetzt haben wir uns lieb», sagt Thomas.

Nur ein bisschen schmusen
Eine Schwangerschaft gab es in der «Humanitas» noch nie. Einige Frauen nehmen die Pille; viele sind unterbunden. «Aus Paargesprächen wissen wir: Die genitale Sexualität ist für geistig Behinderte keine zentrale Frage», erklärt Kari Dähler.

«Viele Betroffene sind nicht so sexualisiert wie unsere Gesellschaft. Auch das blosse Schmusen kann für sie sehr befriedigend sein. Ich bin seit 20 Jahren in diesem Bereich tätig und kenne keine einzige Behinderte, die schwanger wurde.»

«Menschen mit einer geistigen Behinderung hatten bisher wenig Vorbilder für Liebe und Partnerschaft», sagt Cornelia Wirz, Betreuerin in der Martin-Stiftung in Erlenbach. «Ihre Geschichte ist geprägt durch geschlechtergetrenntes Wohnen, durch enge Anbindung an die eigenen Angehörigen und die Tabuisierung ihrer Sexualität. Der Wunsch nach einer Beziehung kann sehr stark sein. Wie für Normale ist es auch für sie sehr anspruchsvoll, die eigenen Bedürfnisse mit jenen des Partners abzugleichen.» Manchmal ist Cornelia Wirz als «Dolmetscherin» gefordert.

Auch das Leitbild der Martin-Stiftung schützt ausdrücklich die Intimität der Bewohnerinnen und Bewohner. «Bei allem Respekt ist es jedoch manchmal unumgänglich, in diese Sphäre einzudringen», sagt Cornelia Wirz. Als Beispiel erwähnt sie eine sehr anhängliche Bewohnerin, die es manchmal vor ihrem Freund zu schützen gilt: «Sie kann sich mit Worten nur schlecht ausdrücken, hat aber ein starkes Bedürfnis nach Bindung. Gegenüber ihrem Freund gelingt es ihr nicht immer, ihre Grenzen zu behaupten. Wo wird jemand ausgenutzt? Dies ist die zentrale Frage der Betreuung.»

Zur Problemerkennung und zur Lösungssuche werden in der Martin-Stiftung Paar- und Einzelgespräche angeboten; der Dialog mit den Eltern kann auch unterstützend sein. «Eine Betreuerin muss immer aus ihrer eigenen Lebenserfahrung abstrahieren können», sagt Cornelia Wirz. «Für einen Behinderten haben viele Dinge eine ganz andere Bedeutung als für uns.»

«Es chnuschprigs Meitli»
«Hey, ich bin 38!» Karin strahlt. «Es chnuschprigs Meitli!», sagt Benno. Die beiden kichern. Sie sind seit drei Jahren ein Paar. Anfang 2003 verliessen sie das Heim und bezogen eine Zweieinhalbzimmerwohnung. Die Miete wird von Verwandten beglichen. «Mängisch hämer echli Krach», sagt Benno. «Mängisch au echli fescht», sagt Karin. «Dänn macht er mi verruckt, dä Chnuschti.» – «Aber nöd schlimm», sagt Benno.

Die Pflichten im Haushalt der beiden sind fix. Karin kocht – «sehr gern Kartoffelgratin» –, Benno putzt und räumt auf. Er ist etwas müde geworden in letzter Zeit, seinen Job im Unispital reduzierte er auf 50 Prozent. Karin arbeitet in einer geschützten Werkstatt.

«Ich sagte ihm als Erste, dass er mir gefällt», sagt Karin. «Nein, ich war zuerst», sagt Benno. Fest steht: Die beiden lernten sich auf einer Ferienreise kennen. Mit «Schmuuse mit de Zeche» fing es an, beim Nachtessen, unter dem Tisch. «Auf dem Nachhauseweg blieben wir dann stehen. Plötzlich!», erinnert sich Karin. «Wir schauten uns an, wir umarmten uns. Do häts gschäpperet», sagt Benno.

Am 7. Oktober 2003 feierten sie Verlobung. Aber die Ringe ziehen sie nur für den Ausgang an.

Das Paar hat keine Zeitung abonniert. Die «Tagesschau» sehen sie sich selten an – und wenn, «dann vor allem den Wetterbericht. Jetzt haben wir aber ein Barometer. Da brauchen wir die ‹Tagesschau› nicht mehr.»

«Ich habe alles an ihr gern», sagt Benno, «von zuunterst bis zuoberst.» Karin lacht, klatscht in die Hände: «Ja, ja, ja!» Benno sei ein ganz lieber Mann. «Seit ich ihn kenne, hatte ich keinen Epilepsieanfall mehr.» Das Zifferblatt der Uhr, das sie zum Geburtstag geschenkt bekam, leuchtet in Orange, Rot und Grün.

Karin und Benno werden keine Kinder haben. Die Frau wurde vor Jahren unterbunden. «Meine Mutter wollte das so. Ich war damit einverstanden. Das ist überhaupt kein Problem.»

Unproblematisch ist dieser Eingriff auch laut den geltenden Richtlinien – solange die Zustimmung der urteilsfähigen Betroffenen vorliegt: «Vermag ein Behinderter die Tragweite des Eingriffs zu beurteilen, so kann er allein darüber entscheiden, ob er stattfinden soll oder nicht», heisst es in den Empfehlungen der Akademie der Medizinischen Wissenschaften.

Sterilisation als letzte Möglichkeit
An dieser Grundhaltung wird sich auch in der gesetzlichen Regelung nichts ändern, die vermutlich im Sommer 2005 in Kraft tritt. Der Entwurf bekennt sich zum Vorrang anderer Verhütungsmittel; für Frauen stehen auch Methoden zur Wahl, die nicht endgültig sind. Als gutachterlich gestützte, letzte Möglichkeit erlaubt das Gesetz auch die Sterilisation von urteilsunfähigen Personen. Dies ist jedoch nicht zulässig, wenn die Betroffene eine Operation als solche fürchtet oder ablehnt.

«Je aufgeklärter Behinderte sind, je genauer sie wissen, was sie wollen, umso weniger gefährdet sind sie», sagt Sozialpädagogin Renate Harder. Sie arbeitet seit 26 Jahren mit geistig behinderten Erwachsenen. Der «Bildungsclub», organisiert von der Pro Infirmis, offeriert Halbjahres- und Jahreskurse zu den Themen Beziehung, Körper, Sexualität. Die Abende werden rege besucht, auch von Alleinstehenden.

Bilanz von Robert, 22: «Ich habe gelernt, dass nicht alles nach meinem Kopf geht.» Von Christina, 20: «Ich habe gelernt zu sagen, wenn ich nicht mehr streiten will.» Jörg fand über den Bildungsclub vor kurzem seine erste grosse Liebe. Jörg ist 57 Jahre alt.

Kursleiterin Harder: «Für viele Behinderte ist nichts selbstverständlich, was wir von Kultur und Regeln wissen. Anderseits neigen manche zu einer gewissen Überschwänglichkeit. Das kann uns Angst machen.» Rollenspiele, Zeichnungen, Fotos, Diskussionsrunden fördern den bewussteren Umgang mit sich selbst – und mit anderen. Was heisst es, einen Freund, eine Freundin zu haben? Wie lernt man jemanden kennen? Wie wichtig ist Zärtlichkeit und Sexualität – für mich, für meinen Partner? «Es ist erstaunlich, wie ansteckend die Offenheit im Gespräch sein kann. Grundsätzlich gilt es, auch Mut für neue Erfahrungen zu machen und an ihnen zu wachsen. Auch Menschen mit einer Behinderung lernen aus ihren Fehlern.»

Fehler? Laune? Leidenschaft? Renate Harder erzählt von einem behinderten Mann, der seine Freundin von Kopf bis Fuss rasiert und sie flächendeckend mit seinem Adressstempel bedruckt hatte. Was nun? Nach längeren Gesprächen mit sämtlichen Beteiligten – verunsichert waren sie alle – überreichte die Bezugsperson dem Mann ein Blatt, worauf schwarz auf rot geschrieben steht: «Erstens. Du darfst Briefe und Pakete abstempeln. Aber nicht deine Freundin. Zweitens. Deine Freundin hat ihren eigenen Coiffeur.»

«Meines Wissens ist es bei dem einen Vorfall geblieben», sagt Renate Harder. «Der Mann ist sehr bestrebt, alles richtig zu machen.»

Das Risiko, ausgenützt zu werden
Geistig behinderte Menschen sind in der Regel bevormundet. Seit fünf Jahren steht ihnen auch die Heirat offen. Behinderte, die bloss verbeiständet sind, können sich auch ohne Einverständnis des Beistands vermählen. Das geht schnell einmal schief.

Wie zum Beispiel bei Rolf. Er ist 48 Jahre alt, verbrachte 16 Jahre in Heimen. Seit 20 Jahren wohnt er allein – «ein bisschen im Niemandsland», sagt er. Rolf hat eine leichte geistige Behinderung. Ein Lehrabschluss fehlt ihm. Den Job als Lagerist hat er verloren.

Am 21. August 2000 heiratete er eine brasilianische Staatsangehörige, «jung und dunkel». Er hatte sie über einen entfernten Bekannten kennen gelernt. «Ja, sie gefiel mir. Es ging alles ziemlich schnell.»

Acht Monate später resümierte er seine ersten Ehetage zuhanden des Gerichts. «Donnerstag, 27. August. Sie meldet sich nicht. 28. August. Auch nicht. Samstag. Ich rufe an, sie sagt, sie ruft gleich zurück. Nichts. 4. September. Nichts gehört von ihr. 5. September. Sie sagt, sie komme gegen Abend.»

Durch einen Zufall erfuhr er: Seine Partnerin wohnte in einem Massagesalon. Die Scheinehe dauerte knapp ein Jahr.

Rolfs Schicksal dürfte kaum einmalig sein. Ein Beistand hat wenig Möglichkeiten, die betreute Person von einem Fehlentscheid abzuhalten. Das Risiko ist gross, an den Falschen, die Falsche zu geraten und ausgenützt zu werden.

«Ich wott öppis Rächts als Frau», sagt Rolf. «Aber ich habe, auf Deutsch gesagt, keine Erfahrung.» Auch Rolf nutzt das Freizeitangebot von «Insieme». Eine Partnerin zu finden brauche Geduld, «das weiss ich schon. Aber das macht die Sache auch nicht leichter.»