Beobachter: Tochter, Ehefrau, Mutter - für viele Frauen spielt sich das Leben in dieser Reihenfolge ab. Dann kommt der Zeitpunkt, an dem die Kinder ausziehen…
Marie-Louise Ries: …und eine Leere macht sich breit, eine Leere ohne Sinn und Struktur. Mütter, die nicht berufstätig sind, erleben den Wegzug der Kinder wie der Mann die Pensionierung: Ihr Leben hat plötzlich keinen Bezugspunkt mehr. Von berufstätigen Müttern hingegen höre ich häufig, dass sie dann noch einmal richtig loslegen. Ich beispielsweise habe in diesem Moment eine eigene Firma gegründet, ein Institut für Frauenförderung, und meine ganze Kraft in den Beruf gesteckt - und in die Pflege meines Freundeskreises.

Beobachter: Eine späte Schaffenskraft.
Ries: Solange die Kinder im Haus sind, müssen sich die Frauen ständig aufteilen, nie können sie sich voll auf eine Sache konzentrieren. Sie sind gefangen in einem Netz aus echten und vermeintlichen Pflichten. Wenn die Kinder weg sind, ist keine Rücksicht mehr nötig, sie sind frei für eigene Pläne.

Beobachter: Fällt es berufstätigen Müttern leichter, ihre Kinder gehen zu lassen?
Ries: Auf jeden Fall - weil sie im Beruf eine zweite Heimat haben.

Beobachter: In der traditionellen Familie kümmert sich die Frau um die Kinder, während der Mann arbeiten geht. Fällt ihm überhaupt auf, dass die Kinder ausgezogen sind?
Ries: Väter nagen bestimmt ebenso lange daran herum wie die Mütter, auch wenn ihr Alltag kaum davon tangiert ist. Die Trennung von den Kindern bringt eben nicht nur die äussere Tagesstruktur eines Paars durcheinander. Sie geht viel tiefer - das bekommen auch die Männer zu spüren. Ein Beispiel: Kinder waren über Jahrzehnte Inhalt der Gespräche. Plötzlich sind sie weg, und die Eltern wissen nicht mehr, worüber sie reden sollen. Wenn ich hin und wieder in einem Hotel übernachte und abends im Speisesaal ein älteres Ehepaar sehe, das sich während des ganzen Essens anschweigt, macht mich das traurig. Es ist, als hätte das Paar nichts Gemeinsames mehr.

Beobachter: Kann ein Paar sich darauf vorbereiten?
Ries: Es gibt nur einen Ratschlag: Übt den Dialog, und zwar bevor der Ernstfall eintritt. Der eine brummelt, der andere nimmt Anteil, und beide sind zufrieden - im Grunde ist es ganz einfach. Dafür braucht jedoch jeder seine eigene Welt, jeder sollte eigenen Interessen nachgehen. Wenn man ständig nebeneinanderher trottet, entstehen keine neuen Gesprächsthemen. Gemäss Untersuchungen reden ältere Paare nur wenige Wörter am Tag miteinander. Stattdessen knirschen sie nachts mit den Zähnen - irgendwie müssen die Gefühle ja raus. In Beziehungen herrscht viel Einsamkeit.

Beobachter: Sind die Kinder weg, muss die Partnerschaft anderen Ansprüchen genügen. Wie schafft ein Paar das?
Ries: Die gemeinsamen Werte müssen neu definiert werden. Und wenn es keine gemeinsamen Werte gibt, muss das Paar herausfinden, was es noch zusammenhält.

Beobachter: Wie geht das?
Ries: Ausprobieren. Ich könnte jetzt Tipps geben. Das bringt nichts, da jede Beziehung anders ist. Ein Beispiel muss reichen: Ich kenne ein Paar, das einen Tag pro Woche gemeinsam verbringt. Einmal plant er den Tag, einmal sie. Zuerst gehen sie etwa ins Museum, dann mittagessen und später besuchen sie Freunde. Das ist doch schon wahnsinnig viel gemeinsame Struktur! Und die beiden sind gezwungen, einen Tag lang miteinander zu reden.

Beobachter: Viele Paare suchen in den Enkelkindern Ersatz für die Kinder.
Ries: Ja, die Erwartung ist gross, dass die Enkel das Vakuum füllen. Das ist auch tatsächlich möglich. Die Beziehung zu den Enkeln ist ähnlich intensiv wie die zu den Kindern.

Beobachter: Enkel, die zum Hüten abgegeben werden, Eltern, die der Pflege bedürfen - besteht da nicht die Gefahr, dass der Freiraum, der durch den Wegzug der Kinder entstanden ist, wieder zugepflastert wird?
Ries: Stimmt, das ist ein Balanceakt. Innerhalb der Vier-Generationen-Familie sind die 50- bis 60-Jährigen im Sandwich zwischen den Enkeln und den eigenen Eltern. Sich abzugrenzen ist schwierig. Gerade weil die Gefühle ambivalent sind: Einerseits wird es einem schnell zu viel. Anderseits ist es wahnsinnig toll, zu merken, dass man immer noch gebraucht wird. Warum auch nicht diesem schönen Gefühl nachgeben? Beziehungen zu pflegen, in denen man sich wohl fühlt, ist mindestens ebenso bereichernd, wie sich selbst zu verwirklichen.

Beobachter: Macht der Freiraum, der entsteht, wenn die Kinder aus dem Haus sind, Angst?
Ries: Wenn er nur Freiraum bleibt, dann ist er Leere und macht Angst. Er kann jedoch auch Ausgangspunkt für eine Neuorientierung sein - besonders für Frauen. Aber wie komme ich als Mutter, die sich jahrelang um Haus, Herd und Kinder gekümmert hat, überhaupt zu neuen Interessen? Ich sage den Frauen in meinen Kursen jeweils: Ihr müsst gar nicht so weit suchen. Der Schatz liegt in euch.

Beobachter: Der Schatz?
Ries: Die Frauen könnten sich auf ihre Jugend zurückbesinnen und Hobbys aus jener Zeit reaktivieren. Oder wieder in den erlernten Beruf einsteigen. Das setzt jedoch Risikofreude voraus. Viele Frauen, die zu mir in die Berufsberatung kommen, zweifeln an ihren Ressourcen, befürchten beispielsweise, dass ihr Lehrabschluss nach 20 Jahren Auszeit nichts mehr wert ist. Oder sie haben Angst, dass sie in ihrem Alter sowieso keine Stelle mehr finden. Dann gibt es die anderen, die sagen: Jetzt komm ich endlich zum Zug!

Beobachter: Und wenn die Frau arbeiten oder eine Weiterbildung machen will, aber der Partner sagt...
Ries:...egal, was du machst, Hauptsache, das Mittagessen steht auf dem Tisch. Solche Bremsklötze gibt es. Anderseits denke ich: Solange der Mann die neuen Aktivitäten der Frau nicht bekämpft, ist schon viel erreicht.

Beobachter: Auch die Aufgaben müssen neu verteilt werden. Stichwort Hausarbeit.
Ries: Eine gerechte Aufteilung findet nur bei ganz wenigen statt - so meine Erfahrung. Nehmen wir den Fall, dass sie wieder voll in den Beruf einsteigt. Selbst dann wird nichts neu verteilt. Im Gegenteil: Sie rennt kurz vor Mittag nach Hause, um zu kochen. Erstaunlich ist, dass das in vielen Beziehungen gar kein Streitpunkt ist. Die Frauen wollen die Hausarbeit häufig gar nicht abtreten. Das ist ihr Reich.

Beobachter: Sind die Kinder erst einmal weg, suchen sich die Männer eine jüngere Freundin - ist das nur ein Klischee?
Ries: Nein. In meinem engeren Freundeskreis haben fünf bis sechs ältere Männer ihre Frauen verlassen und leben nun mit einer 25 Jahre jüngeren Freundin zusammen. Ich glaube, das hängt mit ihrer Angst vor dem Älterwerden zusammen.

Beobachter: Wie halten es die Frauen?
Ries: Wir haben doch gar nicht dieselben Chancen. Wenn ich als 60-Jährige einen neuen Partner will, dann ist der 80.

Beobachter: Warum trennen sich so viele Paare, nachdem die Kinder weg sind?
Ries: Ich weiss nicht, ob das mit den Kindern zu tun hat. Ich glaube eher, dass das mit der Midlifecrisis zusammenhängt, mit dem Älterwerden. Die Lebensmitte ist ein Wendepunkt, an dem viele Paare scheitern: Das Projekt Kind, das ein Paar über Jahre hinweg zusammengeschweisst hat, ist abgeschlossen. Es tauchen existenzielle Fragen auf: War das schon alles? Habe ich erreicht, was ich erreichen wollte? Die Frau etwa merkt plötzlich, dass sie sich neben Erziehung und Haushalt zu wenig um ihre eigenen Bedürfnisse gekümmert hat.

Beobachter: Diese Erkenntnis löst doch auch Wut und Enttäuschung aus. Wie kann ein Paar mit diesen Gefühlen umgehen?
Ries: Die Wut kommt, wenn die Kinder Leere hinterlassen und das Gefühl: Ich habe mein Leben lang nur gedient. Da gibt es nichts anderes, als anzufangen, sich durchzusetzen und das Leben zu wagen, statt es aufzuschieben. Voraussetzung ist, dass man eine Leidenschaft für etwas hat. Vielen Menschen fehlt heutzutage die Neugier. Das ist lähmend, da lebt man nah an der Depression.

Beobachter: Wann lohnt es sich, für die Beziehung zu kämpfen?
Ries: Wenn ich mir mit dem Menschen noch ein gemeinsames Leben vorstellen kann. Ein befreundeter Psychologe, der während seiner Ehe immer auch andere Frauen hatte, sagte einmal: In einem gewissen Alter musst du wissen, wo du hingehörst. Er und seine Frau haben ernsthafte Krisen durchlebt. Jetzt haben sie eine schöne Beziehung. Wenn man älter wird, ist es wichtig, einen Menschen zu haben, der meine Geschichte kennt, ein Stückchen Heimat.

Beobachter: Manchmal sind die Kinder die einzigen Menschen, mit denen die Eltern noch Zärtlichkeiten austauschen und körperliche Nähe erleben. Wenn die Kinder weg sind, haben sie niemanden mehr. Ist das schlimm?
Ries: Kürzlich habe ich in einem Café eine herzige Szene beobachtet: ein älteres Paar. Der Mann steht auf, weil er aufs WC muss, und im Vorbeilaufen hält er sie kurz an der Schulter. Eine winzige Geste, um auszudrücken: Wir zwei gehören zusammen. Dieses bisschen Nähe ist schon wichtig.

Quelle: Renate Wernli