Eine Tagesschule ist unnötig», sagte der Votant an der Ittiger Gemeindeversammlung. Damit fördere man nur die gesellschaftliche Entwicklung, die Erziehung immer mehr vom Elternhaus an die Schule zu delegieren. «Zu teuer», fand ein zweiter Stimmbürger. Aber auch die Befürworter hatten Argumente: «Mit der Tagesschule fördern wir die Integration und die Prävention», sagte die zuständige Gemeinderätin Helene Blatter. Die Einwohnerinnen und Einwohner der Berner Agglomerationsgemeinde liessen sich überzeugen und stimmten deutlich zugunsten des jährlich rund 100’000 Franken teuren, neuen schulischen Angebots.

Der weltanschauliche Streit in Ittigen ist typisch, wenn eine Gemeinde eine Tagesschule einführen will. Konservative Kreise befürchten das Ende der Familie und unerwünschte Beeinflussung der Kleinen durch das Lehrpersonal. Doch immer mehr Mütter wollen ihrem Beruf nachgehen. Und die Wirtschaft braucht qualifizierte Frauen mehr denn je.

Diese Ansicht teilten auch National- und Ständerat: Sie sprachen vor drei Jahren im Rahmen eines Impulsprogramms 200 Millionen Franken für Kinderkrippen, Mittagstische und Tagesschulen. Die Nachfrage blieb allerdings unter den Erwartungen: Gemäss Schätzungen dürften nach Ende des Programms im Januar 2007 nur 107 Millionen Franken aufgebraucht sein. Beim Bundesamt für Sozialversicherung sieht man mehrere Gründe dafür: «Die Gesuche müssen aufzeigen, dass das Projekt nach drei Jahren ohne fremde finanzielle Hilfe überlebensfähig ist. Das ist eine hohe Hürde», sagt Marc Stampfli, Leiter des Bereichs Familienfragen. Zudem sei die Bereitschaft der Gemeinden, ein Tagesschulprojekt zu unterstützen, mancherorts noch immer klein.

Glaubenskrieg um den Familientisch

Auch in Zollikon ZH mussten die Initianten der Tagesschule gegen Widerstände kämpfen: Schulpflege und Gemeinderat unterstützten das Begehren von rund 700 Befürwortern nicht. Das war vor fünf Jahren. Seit drei Jahren ist die Freiwillige Tagesschule Zollikon nun in Betrieb - und erreicht in der Beobachter-Umfrage Spitzenwerte (siehe Nebenartikel «Umfrage: So familienfreundlich sind Tagesschulen»).

Die Stimmung zur Mittagszeit ist heiter in den zwei Sälen des Betreuungsgebäudes Rüterwis. An der Wand hängen die sechs goldenen Regeln. «Alle haben Rechte und Pflichten», lautet die erste. Flavia, 12, muss heute die Tische wischen. «Es ist das beste Ämtli», sagt sie. «Es geht am schnellsten.» Die Ämtli, Tisch wischen oder abtrocknen, gehören zum pädagogischen Konzept der Schule. Mit am Tisch sitzen - freiwillig - auch Lehrkräfte. «Viele Lehrer schätzen es, wenn sie ihre Schülerinnen und Schüler auch einmal in einem anderen Rahmen sehen», sagt Beatrice Weber, Präsidentin der Betreuungskommission der Tagesschule Zollikon.

Tagesschulen ersetzen den Mittagstisch in der Familie. Zwar gibt es den kaum mehr, doch wähnen sich Gegner des Modells noch immer in der Nostalgie der fünfziger Jahre, als die Familie am Mittag vereint Radio Beromünster hörte. Dass Kindern besser gedient ist, wenn sie unter Aufsicht Hausaufgaben erledigen, mit ihren Freunden spielen und ein gesundes Mittagessen geniessen können, statt sich mit Fast Food zu verpflegen und im Einkaufszentrum herumzuhängen, leuchtet den Skeptikern nicht ein. «Viele Eltern unterschätzen die pädagogische und integrierende Bedeutung der Tagesschulen», erklärt Silvia Schenker, Präsidentin des Vereins Tagesschulen Schweiz. Im Parlament sprach sich die Basler SP-Nationalrätin für die flächendeckende Einführung von Tagesschulen aus.

Schenkers Vorstoss ist nur einer von insgesamt vier gleich lautenden Anträgen auf Bundesebene. «Tagesschulen haben heute einen deutlich höheren Stellenwert als noch vor ein paar Jahren», sagt Marc Stampfli vom Bundesamt für Sozialversicherung. Aber auch auf kantonaler und kommunaler Ebene machen Parteien, Initiativkomitees und Elternvereinigungen Druck. In Bern sammelt seit Februar ein Komitee für Tagesschulen Unterschriften, die Stadt Zug will ab dem kommenden Schuljahr Mittagstische und Nachmittagsbetreuung anbieten, in Basel-Stadt und in der Stadt Zürich laufen Pilotprojekte. Gleichwohl sind die 70 Tagesschulen in der Schweiz mit vielleicht einem halben Prozent aller Schülerinnen und Schüler noch ein Exotikum.

Sterbende Schulen leben wieder auf

Am dichtesten ist das Netz der Tagesschulen in Basel, Bern und Zürich. Doch auch in kleinen Landgemeinden sind sie zu finden. Hier entstanden sie oft - wie etwa im zürcherischen Kyburg -, weil die Primarschule mangels Schülern geschlossen werden sollte. Die findigen Lehrer und Schulbehörden merkten, dass sie mit einer Tagesschule auch auswärtige Schüler anziehen und so ihre Schülerzahlen erhöhen können. Das Überleben einer Schule als einzige Motivation für eine Tagesschule sei aber «etwas problematisch», sagt Markus Mauchle, Geschäftsführer des Vereins Tagesschulen Schweiz.

Nicht Schulerhalt, sondern ein Bedürfnis seitens der Eltern gab den Anstoss zur Gründung der Tagesschule in Häuslenen TG. Vor einem Jahr wurde sie ins bestehende Schulhaus integriert. Gegenwärtig nutzen sechs von 53 Schülerinnen und Schülern das neue Angebot. Dass die Kinder gut ernährt werden, dafür sorgt die Kindergärtnerin Astrid Wild. Für viele Produkte schickt sie die Kinder, die beim Kochen helfen, zum nahen Bauernhof. Dort sehen sie, dass es Kartoffeln nicht nur bei der Migros gibt. Für die Mitinitiantin und Kindergärtnerin Susanne Kübler ist das grösste Plus einer Tagesschule, «dass Kinder über Mittag betreut werden, die sonst allein wären. Einmal sagte mir ein Schüler, wenn er allein sei, esse er oft nichts.»

Die Tagesschule in Häuslenen hat in der Umfrage des Beobachters eine tiefe Bewertung erhalten. Dies unter anderem deshalb, weil während der Schulferien keine Betreuung existiert und das Lern- und Förderangebot sowie die Freizeitaktivitäten noch ausbaufähig sind. Diese Defizite werden aber wettgemacht durch eine intensive Betreuung, eine entspannte Atmosphäre und Erziehungsprinzipien, bei denen Fairness und Respekt gross geschrieben werden. «Die Tagesschule Häuslenen befindet sich noch im Projektstadium. Den Schülern stehen aber alle unterstützenden Angebote der Gemeindeschulen zur Verfügung», sagt Projektleiter Roland Hollenstein.

Wie viel darf eine Tagesschule kosten?

Erhebliche Unterschiede gibt es bei den Kosten und den Finanzierungssystemen. Gewisse Schulen kennen einen Einheitstarif - darunter jene in Passugg GR, wo die Kosten mit monatlich 520 Franken günstig sind. Tagesschulen in Bern oder Zürich wiederum haben nach Einkommen abgestufte Kosten. Für gestaffelte Tarife spricht das Argument der ausgleichenden Gerechtigkeit. Doch die St. Galler Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler hält dagegen: Ihre Studie hat ergeben, dass bei zwei mittleren Einkommen die Tarife derart ansteigen, dass sich die Lohnarbeit der Mutter oft nicht mehr lohnt. Bütler plädiert für kostendeckende Pauschaltarife und fordert anderweitige finanzielle Entlastung für Familien, die sich diese nicht leisten können.

Der Unterricht in den Tagesschulen folgt dem kantonalen Lehrplan. Zum Grundangebot gehören betreute Hausaufgaben sowie Sport und Spiele. Etliche Schulen bieten individuelle Förderung sowie zusätzliche Fächer wie Englisch, Musik oder Werken an. Auch Gesundheitsvorsorge, gesunde Ernährung und Bewegung ist in den meisten Tagesschulen zum Thema geworden. So wie in der Orientierungsschule Basel, die für übergewichtige und konditionell schwache Kinder eine zusätzliche Turnstunde offeriert. Entscheidend ist weiter, welche Altersgruppen die Tagesschulen aufnehmen: Im Idealfall reicht das Angebot vom Kindergarten bis zum Ende der obligatorischen Schulpflicht mit 16 Jahren.

Grosse Differenzen - und das wurde in der Umfrage des Beobachters am stärksten gewichtet - gibt es bei den Öffnungszeiten. Vorbildlich ist da die Tagesschule Staudenbühl in Zürich, die von Montag bis Freitag von 7 bis 18 Uhr offen ist. Am anderen Ende der Skala liegt die Schule von Anniviers VS, die nachmittags jeweils um halb drei dichtmacht. Wichtig für berufstätige Eltern ist auch, ob eine Tagesschule in den Schulferien Betreuung anbietet.

Trotz Millionären zu teuer

Auch in Freienbach SZ - bekannt für seine tiefen Steuern und seine hohe Millionärsdichte - standen nach einer Elternbefragung Pläne für eine Tagesschule zur Diskussion. Ausgelegt für rund 60 Kinder, wurden die Kosten dafür auf 1,8 Millionen Franken pro Jahr veranschlagt; das Konzept sah vor, die eine Hälfte durch Elternbeiträge, die andere durch die öffentliche Hand zu finanzieren. In den Spalten der Lokalpresse wogte der Meinungsstreit, im Vorfeld der Abstimmung verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Gegner oder ein Befürworter seine Meinung kundtat. Ende Mai verwarfen die Freienbacher die Vorlage. Ausschlaggebend dürfte jenes Argument gewesen sein, das bereits im Vorfeld die Diskussion dominierte: zu teuer.

Quelle: Daniel Ammann