Das Gefühl Angst kenne er nicht, meinte kürzlich ein Freund in einer anregenden Diskussion über die unterschiedlichen Formen von Angst. Ich war perplex. Sollte ich ihn beglückwünschen, ihn bedauern oder ihm einfach nicht glauben? Ich entschied mich fürs Bedauern. Ich weiss nämlich meine Angstgefühle zu schätzen. Als kleines Kind hatte ich Angst, alleine zum Bäcker zu gehen oder in der Schule vor die Klasse zu treten. Dadurch, dass ich gelernt habe, mit der Angst umzugehen, habe ich an Selbstvertrauen gewonnen. Die Angst hat mir auch geholfen, in brenzligen Situationen richtig zu reagieren.

Selbstverständlich sind nicht alle Leute gleich ängstlich. Aber: Angst gehört zur seelischen Grundausstattung des Menschen, um ihn vor Gefahren zu schützen. Für unsere Kinder ist die Angst Teil einer gesunden Entwicklung. Sie werden in ihren ersten Lebensjahren immer wieder mit bedrohlichen Situationen konfrontiert. Je nach Persönlichkeit, Sensibilität und Phantasie äussern sich diese Ängste unterschiedlich stark. Tröstlich ist, dass entwicklungsbedingte Ängste wie etwa die Trennungs- und Verlustangst sich in der Regel abschwächen oder nach und nach verschwinden. Wenn sich Ängste aber verfestigen und dann lähmen, behindern oder gar krank machen, ist fachliche Abklärung angezeigt. Beispiele: Prüfungsangst, Schulangst, Angst vor anderen und Fremden.

Angst hat viel mit grosser Schüchternheit gemeinsam. Welches Gefühl bei einem Kind im Vordergrund steht, ist nicht immer eindeutig zu erkennen, die Grenze ist fliessend. Der Sozialpsychologe Philip Zimbardo bezeichnet Schüchternheit als Gefängnis im Kopf: «Schüchternen fällt es schwer, in Gegenwart anderer klar zu denken, sie trauen sich wenig zu und haben permanent das Gefühl, ihre Worte, Gestik und Mimik werden von anderen beobachtet und kritisiert.» Studien belegen, dass mittlerweile zirka zehn Prozent eines Jahrgangs beispielsweise an Schulangst leiden. Schränken Ängste und Schüchternheit die Kinder massiv ein, brauchen sie psychotherapeutische Hilfe. Als besonders erfolgreich hat sich die Verhaltenstherapie erwiesen. Sie hilft systematisch, durch Training Ängste zu «verlernen».

Verharmlosen ist wenig hilfreich

Der erste und einfachste Schritt: mit dem Kind offen über seine Ängste reden. Oft beruhigt sich ein Kind schon, wenn es spürt, dass es ernst genommen wird. Greifen Sie das Thema Angst auf und ermuntern Sie Ihr Kind, seine Angstgefühle zu beschreiben. Positiv wirken auch kleine Rituale: Jedes Mal wenn Ihr Kind Angst hat, soll es in Ihre Hand klatschen. Dies stärkt die innere Bindung und beruhigt. Manchmal helfen auch Malübungen, Rollenspiele oder Entspannungsmethoden wie Yoga und autogenes Training.

Auf keinen Fall sollten Sie die Angst verharmlosen oder sie Ihrem Kind auszureden versuchen. «Du musst doch keine Angst haben», ist wenig hilfreich. Geborgenheit und frühkindliche Bindung sind Stützen für eine gesunde Entwicklung. Alle späteren Beziehungen werden sich daran orientieren. Stehen die Eltern kompromisslos zu ihrem Kind, gewinnt es an Sicherheit. Stressige und bedrohliche Situationen lassen sich dann besser überwinden. Gelingt es Eltern dann auch noch loszulassen, ohne überbehütend oder -ängstlich zu sein, haben sie die besten Karten, dass ihre Kinder eines Tages sagen: «Meine Eltern waren für mich der sichere Hafen, in dem ich immer ankern konnte.»