Beobachter: Ein Forschungsteam Ihres Instituts MMI begleitet sogenannte «Bildungskitas». Ein weiteres Projekt im Zuge des Förderwahns?
Heidi Simoni: Kitas sind Bildungsinstitutionen. Es geht nicht darum, sie als solche zu erfinden. Die Frage ist vielmehr, wie sie diese Aufgabe wahrnehmen. Was den Förderwahn betrifft, so beschäftigen wir uns am MMI seit vielen Jahren damit, wie sich kleine Kinder gut entwickeln können. Aber wir folgen nicht blindlings einem Trend.

Beobachter: Was unterscheidet Ihr Projekt von anderen Förderangeboten wie Frühenglisch oder Zeichensprache für Babys?
Simoni: Der Hauptunterschied liegt darin, dass wir nicht davon ausgehen, von Anfang an zu wissen, was die Kinder lernen sollen, sondern uns dafür interessieren, was sie lernen wollen. In vielen dieser «Förder»-Kurse und -Programme ist dies anders. Das Zweite ist eher ein methodischer Unterschied: Wir wollen die Kinder nicht mit Lektionen belehren, sondern ihnen in ihrem Alltag das Lernen ermöglichen. Kleine Kinder können Wissen nicht mit vorgesetzten Portionen aufnehmen, sondern sind darauf angewiesen, dass sie ganzheitlich, entlang ihrer Interessen und aus ihrer Neugierde heraus lernen können.

Beobachter: Was sind die Eckpfeiler Ihres Projekts?
Simoni: Im Zentrum stehen sogenannte «Bildungs- und Lerngeschichten»: Wir dokumentieren, was das Kind gerade am Lernen ist und wie es das macht. Dies besprechen wir mit dem Kind. Praktisch heisst dies, dass sich die Erzieherinnen weniger für den Entwicklungsstand eines Kindes oder für seine Defizite interessieren – wie das bislang üblich ist –, sondern fragen: Woran ist das Kind im Moment? Wofür interessiert und engagiert es sich besonders? Wie können wir es unterstützen und vielleicht etwas herausfordern? Dieser Ansatz ist keine Revolution, aber ein klarer Perspektivenwechsel.

Beobachter: Sie streben eine «Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte», also der Kleinkinderzieherinnen, wie man früher sagte, an. Waren die denn bisher unprofessionell?
Simoni: Ich würde sagen: Jein. Das hat mit der Geschichte dieses Berufs zu tun: Früher war Kleinkinderzieherin ein Beruf, um die Zeit zwischen einer eher dürftigen Schullaufbahn und dem eigenen Muttersein zu überbrücken. In den letzten Jahren hat die Betreuung von Kindern in Kitas an Profil und – hoffentlich – Anerkennung dazugewonnen. In unserem Projekt geht es um eine Qualitätserweiterung: um das genaue Beobachten und Begleiten des individuellen Kindes und kleiner Kindergruppen, aus einem ganz besonderen Blickwinkel.

Beobachter: Braucht es künftig eine Matur oder gar ein Studium, um in einer Kita zu arbeiten?
Simoni: Nein. Aber das ganze Spektrum soll abgedeckt sein, von Personen mit «einfacher» Berufslehre bis zu Personen, die sich an Fachhochschulen oder Universitäten mit frühkindlicher Entwicklung und Erziehung auseinandersetzen. Zurzeit gibt es in der Schweiz keine einzige Hochschule, die als Schwerpunkt auf dem Gebiet der frühen Entwicklung lehrt und forscht. Ein Manko.

Beobachter: Kleinkinder seien von Geburt an bildungshungrig, sagen Sie. Das ist keine neue Erkenntnis.
Simoni: Natürlich nicht. Es geht darum, den Frühbereich aufzuwerten. Studien zeigen, dass Bildung nicht erst mit dem Schuleintritt beginnt, sondern der «Vorlauf» sehr wichtig ist. Ein Kind entwickelt sich zwar aus einem inneren Bauplan heraus, aber eben doch nicht allein. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob ein kleines Kind Antworten auf seine Fragen bekommt oder nicht. Kinder brauchen zum Lernen eine Umgebung, die ihnen materielle Anregungen bietet, aber auch Menschen, die verfügbar und an ihnen interessiert sind.

Beobachter: Damit machen Sie doch denjenigen Müttern Druck und ein schlechtes Gewissen, die ihre Kinder nicht in die Kita schicken können?
Simoni: Es wäre ein fatales Missverständnis, wenn man Kitas und Eltern gegeneinander ausspielen würde. Die Frage, wie Kinder lernen, ist natürlich für Kinder, die zu Hause betreut werden, genauso wichtig wie für Kita-Kinder. Doch es ist heute so, dass Kitas für viele Kinder und Eltern eine bedeutende Rolle spielen. Bei unserem Bildungsverständnis, Kinder entlang ihrer Interessen zu begleiten, betonen wir das Miteinander zwischen Eltern und Erzieherinnen. Oder zwischen Eltern und etwa Nachbarn. Wenn das Kind keine Kita besucht, sind regelmässige Kontakte in einem vertrauten Umfeld seiner Familie sehr wichtig.

Beobachter: Im Zentrum Ihrer Lerngeschichten steht die Beobachtung. Wenn ein Kind stets beobachtet wird, wird die Beziehung der Betreuerin zum Kind dadurch nicht unnatürlich, verkrampft?
Simoni: Beobachtet werden Kinder so oder so, aber aus unterschiedlichen Motiven. Wenn man dauernd schaut, was kann es noch nicht, ist es schon schulreif, stört es die anderen, dann ist das ein ganz anderes Beobachten, als wenn man sich fragt: Was wollte das Kind eben wissen? Oder: Mal schauen, wie wir das zusammen besprechen können. Die Erfahrung zeigt auch, dass sich die Kinder über diese Art von Aufmerksamkeit sehr freuen und schnell begreifen, worum es geht. Und von den Kitas bekommen wir dazu durchwegs positive Rückmeldungen. Die Erzieherinnen sind alle verblüfft über den Unterschied, den der Perspektivenwechsel ausmacht. Sie nehmen Verhaltensweisen eines Kindes anders wahr, reflektieren sie anders und kommen so anders mit Kindern und Eltern ins Gespräch.

Beobachter: Raubt man Kindern nicht ein Stück Kindheit, wenn man sie so früh auf Leistung trimmt?
Simoni: So formuliert, stimmt das: Wenn man Kinder trimmt, dann raubt man ihnen einen Teil dessen, was frühe Kindheit eben ausmacht: sich intensiv für sich und die Umgebung zu interessieren.

Beobachter: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht, sagt ein afrikanisches, von Pädagogen gern zitiertes Stichwort. Ist das mit Bildungskitas kompatibel?
Simoni: Sicher. Wir wollen ja nicht am Gras ziehen, sondern günstige Bedingungen fürs Wachsen schaffen. In Afrika wird es wohl auch so sein, dass, wer aufs Gras angewiesen ist, sich damit beschäftigt, wie es wächst, ob es Sonne hat und genug Wasser bekommt.

Das Praxis- und Forschungsprojekt «Bildungs- und Resilienzförderung im Frühbereich» des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind (MMI) widmet sich der Frage, was Lernen für Kleinkinder heisst. Seit August 2009 werden 25 Kindertagesstätten begleitet, die «Bildungskitas» werden wollen.

Das MMI-Projektteam coacht die Kitas in zwei Phasen während jeweils anderthalb Jahren. Die Veränderungen und Auswirkungen bei Fachpersonen, Kindern und Eltern werden erstmals für die Schweiz wissenschaftlich erforscht und evaluiert. Als Partner ist das Projekt «bildungskrippen.ch» beteiligt. Finanziell unterstützt wird das Unterfangen von der Mercator-Stiftung Schweiz, der Jacobs Foundation, dem Nationalfonds und der Hamasil-Stiftung.