«Zum Wohl», «Guten Appetit», «Danke, es hat geschmeckt»: Wann immer wir essen, pflegen wir bestimmte Rituale – sei es mit Worten, sei es mit der Speisefolge, sei es in der Art, wie wir essen. Essrituale gibt es überall auf der Welt.

Entstanden sind sie vor allem aus praktischen Gründen. Der Mensch entdeckte irgendwann, dass gegartes Fleisch besser schmeckt als rohes – dessen Zubereitung brauchte allerdings Zeit. Während alle auf das Essen warteten, wurde erzählt, gespielt oder musiziert. Daraus entstanden Essenszeiten und -regeln.

Auch religiöse Rituale wie das Fasten haben oft einen praktischen Ursprung. Früher reichten die Vorräte im Normalfall bis Weihnachten, erst an Ostern konnte wieder geerntet werden. So haben Essrituale im Lauf der Zeit wichtige Aufgaben erhalten: Sie geben dem Tag, der Woche und dem Jahr eine Struktur. Ausserdem fördern sie das Gemeinschaftsgefühl. Schliesslich sind Rituale auch gut für die Gesundheit. «Dank ihnen essen wir bewusster und nehmen uns für die Mahlzeiten auch Zeit», sagt Margrit Sulzberger, Fachfrau für Ernährung.

Laut Sulzberger sind die alten Essrituale heute allerdings in Gefahr. Früher habe man jeden Freitag Fisch gegessen – aus Tradition und aus religiösen Gründen. «Heute hingegen ist das Fischessen nicht mehr mit Sinn erfüllt und wird deshalb auch nicht mehr jeden Freitag gepflegt.» So ergehe es vielen Essritualen, die durch Zeitmangel und den Trend zum Alleinessen bedroht seien.

Auch Jakob Tanner, Professor für neuzeitliche Geschichte an der Universität Zürich, glaubt, dass die traditionellen Essrituale durch Snacks und Fastfood gefährdet sind. «Mit dem schnellen Essen geht viel praktisches Wissen verloren – Wissen über das Einkaufen, Kochen, Essen und Aufräumen, das bisher in der Familie von den Eltern zu den Kindern weitergegeben wurde.» Fastfood sei deshalb aber noch lange nicht kommunikationsfeindlich. Tanner: «In Fastfood-Restaurants finden zwar kaum Gespräche zwischen den Generationen statt, dafür reden Gleichaltrige miteinander; sie schaffen sich eigene soziale Regeln und erfinden neue Rituale. Essrituale werden deshalb auch nicht verschwinden.»

Besonders beständig sind religiöse Rituale oder Bräuche, die immer und überall funktionieren – zum Beispiel das Anstossen zur Feier eines Erfolgs oder der gemeinsame Beginn des Essens. Während Festtagsrituale wie die Weihnachts- oder Hochzeitsessen das Aussergewöhnliche zelebrieren, dienen Alltagsrituale wie das abendliche Familienessen dazu, ein Gefühl der Normalität und Sicherheit zu vermitteln. «Über solche Rituale grenzen sich Familien oder andere Gruppen nach aussen ab; gleichzeitig stellen sie den inneren Zusammenhalt sicher», sagt Tanner.

Essrituale verstärken aber nicht nur das Zusammengehörigkeitsgefühl, mit ihnen kann auch Macht ausgeübt oder eine Wertvorstellung vermittelt werden – etwa, dass unbedingt ausgegessen werden muss. Die Folge solcher autoritär geprägter Rituale könnte aber sein, «dass Jugendliche gezielt in ein Fastfood-Restaurant gehen, um aus dem Regelwerk ihrer Familie auszubrechen», sagt Jakob Tanner.

Traditionelle Essrituale werden aber nicht nur verdrängt oder verändert, sie werden auch wiederbelebt. Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten besinnen sich viele Menschen auf Altbewährtes und pflegen Bräuche wieder bewusster – weil sie verbindlich sind und das Essen zu einer stärkenden Quelle für Körper und Seele machen. Ernährungsspezialistin Margrit Sulzberger empfiehlt zum Beispiel, das Morgenessen als Kraft spendenden Tagesauftakt mit einer ausgewogenen Mahlzeit zu zelebrieren, nach dem Mittagessen eine Siesta als Ruhe- und Verdauungspause einzuschalten und am gemeinsamen Familienessen festzuhalten. Dieses ist allerdings zunehmend bedroht. «Es gibt Kinder, die ihre Eltern nie kochen sehen», sagt die Psychologin Charlotte Wunsch.

Damit Essrituale ihren Platz im Alltag behalten und so ihre gesundheitsförderliche Wirkung entfalten können, braucht es den guten Willen, sie zu pflegen. Nötig sind aber auch ein gesunder Appetit, die Fähigkeit, zu geniessen, und eine entspannte Atmosphäre (siehe «Regeln» auf Seite 8). Der Weg dahin beginnt schon beim Kochen. Besonders gut schmecken Gemeinschaftswerke. Kochen Sie wieder einmal mit Ihrem Partner oder mit der ganzen Familie. Erstellen Sie das Rezept gemeinsam, gehen Sie zusammen einkaufen und teilen Sie sich danach auch das Ab- und das Aufräumen.

Überraschungen machen Esslaune: Zeigen Sie Mut zum Experiment und versuchen Sie regelmässig, etwas Neues zu lernen – zum Beispiel ein anspruchsvolles orientalisches Mahl oder ein Rezept der Grossmutter, um Brotreste zu verwerten.

Auch Traditionelles kann schmecken. Die immer gleichen Geburtstags- oder Weihnachtsessen, das Lieblingsessen aus der Kindheit oder saisonale Gerichte schaffen ein Gefühl von Vertrautheit. Sammeln Sie Familienrezepte. Mutters Spezialrezept, leckere Feriengerichte und Eigenkreationen sind reichhaltige Quellen für kulinarische Reisen in die Vergangenheit.

Essgenuss beginnt mit Gelassenheit beim Kochen. Ist Ihnen mal ein Mahl misslungen? Nehmen Sie es mit Humor und zeigen Sie sich kreativ. Machen Sie aus der versalzenen Sauce eine Suppe – oder bestellen sie einfach eine Pizza. Aus manch gescheitertem Menü ist schon eine hübsche Anekdote geworden.

Eine weitere Voraussetzung für einen unbekümmerten Essgenuss ist der gesunde Appetit. Wer zu wenig oder zu viel Appetit hat, leidet mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Stress. Da hilft nur eines: gut auf den Körper hören, seine Bedürfnisse wahrnehmen und sich dann Pausen und etwas zu essen gönnen, wenn er danach verlangt. Wer übermässig Appetit hat, sollte vor allem nährstoffreiche und langsam verdauliche Kost zu sich nehmen.

Ausserdem sollte man Mund und Verdauungstrakt beschäftigen: am besten mit frischem Obst, Gemüse oder mit Vollkornstangen – das löst die Anspannung. Ein Fehler wäre es, den Körper auszuhungern, denn das führt zu Fressattacken und freudlosem Runterschlingen.

Das beste Mittel gegen Stress aber ist Geselligkeit. Ein gemeinsames Mahl, begleitet von vertrauten Ritualen, vertreibt Essfrust und schafft Esslust.