Hätte es Barbie schon im Mittelalter gegeben, wären ihre Formen üppig rund gewesen. Schlank war damals nur die arme Bevölkerung. Heute vermitteln spindeldürre Fotomodelle ein anderes Schönheitsideal. Mit fatalen Folgen: Vier von fünf Frauen sind mit ihrem Aussehen unzufrieden. Und fünf von hundert zwischen 15 und 35 Jahren leiden unter Essstörungen wie Magersucht oder Ess-Brech-Sucht, schätzt Thomas Fischer, Oberarzt an der psychiatrischen Polyklinik in Bern. «Die Dunkelziffer dürfte noch einiges höher sein.»

Essstörungen zeigen sich in neun von zehn Fällen bei Mädchen und Frauen. Schon jede zweite Elfjährige ist mit ihrer Figur unzufrieden. Als Hauptgrund dafür vermuten Fachleute, dass bei Mädchen die Pubertät früher einsetzt und viel schneller und sichtbarer vor sich geht als bei Jungen. Reagieren Eltern, Verwandte oder Kollegen mit unbedachten Bemerkungen auf die körperlichen Veränderungen, nimmt der Teufelskreis seinen Lauf: Um den «Babyspeck» loszuwerden, wird eine Radikaldiät durchgeführt, anschliessend zu wenig bis gar nichts mehr gegessen. Da die Selbstwahrnehmung der jungen Frauen zunehmend gestört ist, finden sie sich sogar dann noch zu dick, wenn sie bis auf die Knochen abgemagert sind. Gedanken an die Waage oder ans Essen dominieren den Alltag.

Zudem beginnen viele Frauen in diesem Alter mit dem Rauchen: In den letzten zehn Jahren hat der Anteil der Schülerinnen in der Schweiz, die regelmässig zur Zigarette greifen, von 30 auf 40 Prozent zugenommen. Sie glauben, so haben Befragungen ergeben, dass ihnen das Rauchen hilft, schlank zu werden – oder zu bleiben.

Die Folgen von Essstörungen sind schwerwiegend. Frauen, die lange Zeit untergewichtig sind, leiden gehäuft an Knochenschwund (Osteoporose) und Unfruchtbarkeit. Bei Ess-Brech-Sucht können Erkrankungen in der Speiseröhre und Zahnverfall hinzukommen.

Auch die emotionalen und sozialen Folgen sind gravierend: Ängste, Vereinsamung, Schamgefühle, Zwangsverhalten, Selbstverletzungen und Depressionen sind möglich. Zudem versuchen viele der Betroffenen, ihre Erkrankung zu verstecken. «Doch dieses Doppelleben kostet extrem viel Energie», sagt Thomas Fischer.

Früherkennung ist wichtig

Es gibt Hinweise auf Essstörungen, die Eltern frühzeitig erkennen können:

  • häufige Diäten, häufiges Auf-die-Waage-Stehen, Verwendung von Abführmitteln;

  • für andere kochen, ohne selbst zu essen; Verleugnen von Hungergefühlen;

  • Sammeln und Verstecken von Nahrungsmitteln;

  • auffällige Gewichtsschwankungen, ständige Beschäftigung mit dem Gewicht und der Figur;

  • übertrieben ehrgeizige körperliche Aktivitäten;

  • weite, die Figur verhüllende Kleidung;

  • Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Depressionen;

  • Aussetzen der Monatsblutung, Kopfschmerzen, Schwächeanfälle bis hin zur Ohnmacht.

Entscheidend für den Heilungsprozess ist die Einsicht, krank zu sein, und die Bereitschaft, darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten. Bei allen geht es darum, das Essverhalten zu beeinflussen. Zugleich wird das Grundproblem angegangen, das sich meist hinter der Essstörung verbirgt. «Der Heilungsprozess kann mehrere Jahre dauern», warnt Thomas Fischer. Und: Nur jede dritte Frau ist eines Tages vollständig geheilt. Ein weiteres Drittel lernt, mit der Krankheit umzugehen. Bei den restlichen wird die Krankheit chronisch.

Eine wirksame Präventionsmassnahme ist, mit falschen Idealen aufzuräumen: Etwa indem man Gefährdeten bewusst macht, dass Fotomodelle im Durchschnitt 25 Prozent Untergewicht haben.

Prävention: Elf hilfreiche Leitsätze

Das beste Mittel, Essstörungen zu verhindern, ist ein gesundes Selbstvertrauen. Die folgenden Leitsätze können jungen Menschen helfen, ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln:

  • Ich habe einen Platz in dieser Welt, so wie ich bin. Dazu muss ich nicht perfekt sein.

  • Ich habe ein Recht auf mein eigenes Leben, auf meine Bedürfnisse und Gefühle.

  • Ich muss mich nicht für meine Fehler schämen, sondern darf aus ihnen lernen.

  • Ich muss mich nicht immer mit andern vergleichen.

  • Ich darf Spass haben und das Leben geniessen.

  • Ich konzentriere mich auf meine Stärken, nicht auf meine Schwächen.

  • Ich habe viel mehr zu bieten als mein Äusseres.

  • Ich kann Selbstverantwortung tragen und mich selbst glücklich machen.

  • Ich darf meine Meinung sagen und Konflikte austragen – ich muss nicht immer einem übertriebenen Harmoniebedürfnis nachgeben.

  • Ich missbrauche das Essen nicht als Trost, Ersatzbefriedigung, Belohnung oder gegen Frust und Langeweile.

  • Jede Art von Sucht, auch Essstörungen, schadet mir und gefährdet meine Gesundheit.

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