Karin V.: «Meine Töchter wollten keine Ausgabe von ‹Germany’s Next Topmodel› verpassen. Ich halte den Körperkult im TV für übertrieben. Man braucht im Leben doch andere Qualitäten als gutes Aussehen!»

Da bin ich Ihrer Meinung. Natürlich ist Schönheit attraktiv: schöne Musik, schöne Landschaften, schöne Pflanzen und schöne Körper. Schönheit zieht uns an. Deshalb versucht die Werbung, uns mit schönen Menschen zum Konsum zu verführen. Das ist der Job der Models. Das erklärt aber nicht, wieso ein Modelwettbewerb so viele Zuschauer fasziniert. Zwar sind Wettbewerbe immer spannend, sei es Sport oder ein Fragequiz. Bei Model-Castings spielt aber sicher Narzissmus eine besondere Rolle: der Narzissmus der Moderatoren, der Teilnehmerinnen und der Zuschauer.

Das Wort Narzissmus geht auf die griechische Sage zurück: Der schöne Jüngling Narziss ist derart vernarrt in sein Spiegelbild im Wasser, dass er nicht einmal die Lockrufe der Nymphe Echo vernimmt.

Ich, ich, ich und mir, mir, mir

Leonie Stein, Dozentin an der Hochschule der Künste Bern, ist der Meinung, dass Reality-TV und Casting-Shows narzisstische Tendenzen unterstützen. Sie gehört damit zu jenen Fachleuten, die die These vertreten, dass unsere Gesellschaft immer narzisstischer werde. Forscher untersuchten Texte von Songs, die zwischen 1980 und 2007 in den Top Ten der US-Hitparade waren. Sie fanden heraus, dass die Zahl der Wörter «ich» und «mir» auffällig zugenommen hat. Sind die Songtexte ein Spiegel dafür, dass der Mensch immer egozentrischer und selbstverliebter wird?

Ein gewisses Mass an Selbstliebe ist zwar durchaus angebracht und dient als Basis für Optimismus und Selbstsicherheit. Zu viel Narzissmus jedoch schwächt eher. Narzisstische Persönlichkeiten brauchen den Applaus und werden damit von ihrem Publikum abhängig. Viele Stars weisen genau diese Persönlichkeitsstruktur auf. Sie benötigen dauernd Bestätigung durch ihre Fans. Bleibt diese aus, kann das überschwängliche Selbstbewusstsein in Minderwertigkeitsgefühle und Depression umschlagen.

Der US-Psychoanalytiker Heinz Kohut war der Meinung, dass eine Veranlagung zu diesem Muster in der frühen Kindheit erworben wird. Als Kleinkinder fühlen wir uns allmächtig und halten die Welt für vollkommen. Mit den Jahren lernen wir dann allerdings, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen und dass nichts perfekt ist. Wer diesen Schritt nicht tun konnte, hält sich immer wieder für den Grössten oder die Grösste und will nichts weniger als das Beste.

Der Narziss: Ein Spiegel des Westens

Natürlich ist das ein mächtiger Antrieb für grosse kulturelle Leistungen, aber glücklich macht diese Persönlichkeitsstruktur nicht – oder nur in kurzen aussergewöhnlichen Momenten, auf der Bühne eben.

Narzissten sind auch schwierige Liebespartner: Einerseits erwarten sie eine Traumfrau oder einen Traummann an ihrer Seite, anderseits brauchen sie selber das Gefühl, die Schönsten und Grössten zu sein. Das führt sehr schnell zu Konflikten. Ausserdem kann eine narzisstische Persönlichkeit sich nicht eingestehen, dass sie einen anderen Menschen braucht – der Narziss will sich selber genügen.

Ob sich nun tatsächlich alle Menschen der westlichen Gesellschaften in diese Richtung entwickeln, ist umstritten. Die Selbstdarstellung in Mode und Lebensstil ist heute sicher wichtiger als vor 50 Jahren; der Starrummel hat fraglos zugenommen. Der Begriff «Star» an sich ist ein Symbol für Narzissmus: der leuchtende Stern hoch über allem anderen. Wer allerdings gerne Stars am Fernsehen sieht oder Klatschhefte verschlingt, braucht nicht zu fürchten, unter einer narzisstischen Störung zu leiden. Man kann Anteil nehmen am Leben der Reichen und Schönen und gleichzeitig mit beiden Füssen auf dem Boden bleiben.

Buchtipps

  • Hans-Werner Bierhoff, Michael Jürgen Herner: «Narzissmus – die Wiederkehr»; Verlag Huber, 2009, 248 Seiten, Fr. 37.90

  • Heinz-Peter Röhr: «Narzissmus. Das innere Gefängnis»; dtv, 2012, 192 Seiten, Fr. 13.90