Grundsätzlich kann man aus zwei Gründen nicht erwarten, dass die eigenen Kinder ebenso reagieren, wie man es selbst in diesem Alter getan hat. Erstens ist jedes Kind ein eigenes, einzigartiges Wesen und zweitens leben unsere Kinder in einer anderen Umwelt als wir damals, was ihr Verhalten und Erleben ebenfalls prägt. Ich würde die Reaktion Ihres Sohnes auch nicht als abnormal, sondern eher als ungewöhnlich bezeichnen.

Ich kann aber Ihre Beunruhigung verstehen, erwartet man doch von Kindern, die ja noch in der Entwicklung stecken, dass sie vorwärts orientiert sind und sich entfalten und nicht stagnieren wollen. In der Regel ist es auch so, dass wir erst im höheren Alter – wenn wir mit Wehmut zurückschauen – merken, dass wir mit der Kindheit auch etwas unwiederbringlich verloren haben: eine spielerische Unbeschwertheit mit einem offenen Horizont, eine Art Zeitlosigkeit vielleicht. Noch war alles möglich. Selbst wenn etwas schiefging, war man überzeugt, dass es einen Ausweg gibt, dass schliesslich alles gut kommt.

Bedauern über den Verlust der Kindheit

Vielleicht ist Ihr Sohn ein kleiner Philosoph, der schon spürt, dass mit der nahenden Pubertät seine Kinderwelt verlorengehen wird. Das Mehr an Freiheit wird mit einem Verlust an Geborgenheit bezahlt werden, der Gewinn an Selbständigkeit mit der Übernahme von manchmal drückender Verantwortung. Natürlich weiss ich nicht, was wirklich in Ihrem Elfjährigen vorgeht, ich will nur darauf hinweisen, dass es durchaus ein angemessenes, sinnvolles Gefühl sein könnte, das Erwachsenwerden auch mit Bedauern als Verlust der Kindheit zu sehen.

Was das weitere Vorgehen angeht, sollten Sie auf dem angefangenen Weg bleiben und noch etwas weiter fragen, warum Ihr Sohn denn nicht erwachsen werden möchte. Es ist ja durchaus möglich, dass ihm etwas Sorgen macht, was man klären oder ausräumen kann, weil es auf einer falschen Vorstellung beruht. Ausserdem ist es für Kinder immer heilsam und entwicklungsfördernd, wenn sie über ihre Gefühle reden können. Und es ist schön zu erfahren, dass einen die Eltern ernst nehmen.

Vielleicht spürt der Elfjährige aber auch bereits, dass es gar nicht einfach ist, in der modernen Welt erwachsen zu sein. Im Mittelalter orientierte man sich noch an einem allmächtigen Gott, gläubiges Gehorchen war in allen Bereichen angesagt. Mit der Aufklärung begann man hier im Westen auf die Vernunft zu bauen, man befreite die Menschen von kirchlichen und politischen Zwängen. Das hat schliesslich zur heutigen pluralistischen Gesellschaft geführt. Es gibt wenig allgemeingültige Regeln und keine klar definierte Moral mehr. Jeder ist aufgefordert, seinen Lebensweg selber zu suchen und zu gestalten.

Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka hat von einer «wertunsicheren Gesellschaft» gesprochen, in der auch die Erziehungsrichtlinien unklar geworden seien. Der Soziologe Ulrich Beck prägte das Schlagwort von der «Risikogesellschaft». Für jeden im Westen ist der «American Dream» möglich: von ganz unten nach ganz oben zu kommen. Wenn ihm dies nicht gelingt, ist er selber schuld. Bereits Schulkinder wissen das. Zur Unsicherheit trägt auch das Tempo des modernen Lebens bei. Auf der aktuellen Single der Gruppe Silbermond bittet die Sängerin: «Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint. Nimm mir ein bisschen Geschwindigkeit, gib mir irgendwas, das bleibt.» Singt sie vielleicht, was wir uns alle wünschen?