Beobachter: Wo ist ein Kind über Mittag besser aufgehoben: in der Schule oder daheim?
Remo Largo: Das Kind braucht eine Ansprechperson, die ihm zuhört. Das braucht nicht zwingend die Mutter zu sein, aber eine Person, die dem Kind vertraut ist. Wenn es tatsächlich noch so wäre, dass die Familie die Betreuung über Mittag und nach der Schule gewährleisten würde, hätten wir die Diskussion rund um eine ganztägige Betreuung in der Schule gar nicht.

Beobachter: Der Ruf nach Tagesschulen ist also nichts anderes als eine Anpassung an die Realität?
Largo: Heute sind 40 Prozent der Kinder unbeaufsichtigt, deren Mütter arbeiten müssen. Es ist keine Frage mehr, ob wir Tagesschulen wollen oder nicht. Sie sind schlicht eine Notwendigkeit.

Beobachter: Sie befürworten also die Fremdbetreuung von Kindern?
Largo: Es ist eine Verklärung, dass es dem Kind gut tut, wenn es den ganzen Tag nur mit der Mutter zusammen ist. Das Kind braucht für seine Sozialisierung andere Kinder. Es ist auch nicht gut für die Mütter: 40 Prozent der Mütter von Vorschulkindern leiden an depressiven Verstimmungen. Dass eine Mutter die Kinder allein betreut, gab es in der Geschichte der Menschheit nur ausnahmsweise. Kinder wurden von Gemeinschaften aufgezogen.

Beobachter: Wie kam es dazu?
Largo: Erst mit dem Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg konnten es sich die Familien leisten, dass nur der Vater arbeitete. Eine Ausnahmesituation. Dieser Luxus ist jetzt vorbei, auch wenn wir immer noch so tun, als ob. Das mittlere Einkommen der Väter liegt bei 5500 Franken. Die Hälfte der Löhne liegt jedoch darunter, und das reicht nicht, um eine Familie zu ernähren.

Beobachter: Und wer soll Krippen und Tagesschulen bezahlen?
Largo: Der Staat. Diverse Studien belegen, dass sich diese Investitionen lohnen. Es kommt in Form von Steuern mehr Geld zurück, weil beide Eltern arbeiten.

Beobachter: 25 Jahre lang haben Sie die kindliche Entwicklung erforscht. Haben sich die Kinder in dieser Zeit verändert?
Largo: Die Kinder sind immer noch die gleichen. Ihr Umfeld hat sich aber verändert. So fehlen etwa Grünräume, und vor allem die Eltern haben viel weniger Zeit. Zeit ist heute das kostbarste Gut, das sie ihren Kindern geben können.

Beobachter: Brauchen deshalb immer mehr Kinder Förderunterricht in der Schule?
Largo: Bestimmt nicht, weil die Kinder dümmer sind. Tatsächlich bekommen in Zürich zwei von drei Kindern in den ersten drei Schuljahren Förderunterricht. Einerseits, weil die Lehrer sehr gefordert sind und für schwierige Kinder rasch Massnahmen verlangen. Anderseits haben die Eltern grosse Existenzängste: In den Boomjahren fand jeder eine Stelle, heute müssen viele um ihren Arbeitsplatz bangen. Diese Verunsicherung geben die Eltern an die Kinder weiter, denn diese sollen die besten Startbedingungen bekommen.

Beobachter: Was sind denn die besten Startbedingungen?
Largo: Für mich: wenn jedes Kind seine in ihm angelegten Fähigkeiten entwickeln kann. Musische und handwerkliche Fächer werden leider immer mehr vernachlässigt. Dazu gehört aber auch, dass das Kind lernt, mit dem Computer als Arbeitsinstrument umzugehen. Das Schreiben mit dem Zehnfingersystem muss ein Lernziel für alle Kinder sein. Leider geht es da in der Schule zu wenig vorwärts: Zu viele Lehrer sind mit dem Computer immer noch zu wenig vertraut – zum Schaden der Kinder!

Beobachter: Aber frecher sind die Kinder geworden. Wo ist der Respekt vor Erwachsenen geblieben?
Largo: Da hat sich tatsächlich etwas verändert: Wir haben die Autorität als Statussymbol weitgehend abgeschafft. Darüber bin ich nicht traurig. Es gilt nicht mehr die Pseudoautorität, die sich aus dem Status ergibt nach dem Motto: «Du musst mir gehorchen, weil ich ein Erwachsener bin.» Heutige Kinder haben aber Respekt vor Kompetenz. Sie spüren schon früh, ob jemand glaubwürdig ist oder nicht. Ich will aber nicht verschweigen, dass es immer mehr verwahrloste Kinder gibt. Verwahrlost, weil sie vernachlässigt werden.

Beobachter: Trotzdem müssen Kinder Umgangsformen lernen.
Largo: Einverstanden, aber diese kann man ihnen nicht beibringen, sondern muss sie vorleben. Kinder orientieren sich an Vorbildern. Nur, stehen wir Erwachsenen als Vorbilder zur Verfügung?

Beobachter: Im Fernsehen machen Super-Nannys aus ungezogenen Kindern kleine Engel. Schauen Sie sich diese Sendungen an?
Largo: Bei den Erziehungssendungen, die ich mitverfolgt habe, ging es um Eltern, die ihre Kinder sträflich vernachlässigt haben. Kinder suchen negative Aufmerksamkeit und werden aggressiv, wenn man sie ignoriert. Das Credo von Super-Nanny ist: Ich muss nur konsequent sein und das Verhalten des Kindes positiv oder negativ verstärken, dann gehorcht das Kind. Das Wichtigste wird dabei vergessen: Ein Kind gehorcht, wenn es den Erwachsenen gern hat und seine Zuwendung nicht verlieren will.

Beobachter: Wie viel Aufmerksamkeit braucht denn ein Kind?
Largo: Es ist simpel und schwierig zugleich: Ein Kind kann nicht allein sein. Es muss, immer wenn es ein Bedürfnis hat, Zugang zu einer vertrauten Person haben. Das gilt übrigens auch für Jugendliche.

Beobachter: Dann sind wir wieder bei der Kleinfamilie mit der immer präsenten Mutter.
Largo: Das Modell Kleinfamilie ist falsch. Es überfordert Eltern, wenn nur sie allein alle Ansprüche der Kinder erfüllen müssen. Kinder brauchen verschiedene erwachsene Bezugspersonen.

Beobachter: Hat sich Ihre Einstellung zu Kindern in den letzten 25 Jahren verändert?
Largo: Ja. Heute sehe ich Kinder mehr als Individuen als früher. Wir können sie nicht nach unseren Erwartungen und Vorstellungen formen. In der heutigen Gesellschaft verändern sich die Prioritäten zuungunsten der Kinder. Wir erwarten von ihnen immer höhere Leistungen, investieren aber kaum Zeit in sie. Die Väter verbringen täglich etwa 20 Minuten mit ihren Kindern (ohne Mahlzeiten), sitzen aber durchschnittlich drei Stunden vor dem Fernseher.

Beobachter: Haben wir kein Interesse mehr an Kindern?
Largo: Viele junge Leute spüren, dass es sehr belastend sein kann, Kinder aufzuziehen. Dank der Pille können sie heute wählen: Familie, Weltreise oder Karriere? In der Schweiz sind wir unterdessen bei 1,2 Kindern pro Frau, damit die Schweizer Bevölkerung nicht ausstirbt, bräuchte es 2,1. Damit es mehr Kinder gibt, muss es wieder mehr Freude machen, eine Familie zu haben. Dafür brauchen die jungen Eltern Unterstützung bei der Kinderbetreuung und mehr Verständnis am Arbeitsplatz.

Beobachter: Ist die Schweiz ein kinderfeindliches Land?
Largo: Laut der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit investiert die Schweiz in die Kinderbetreuung lediglich ein Zehntel dessen, was Dänemark und Schweden ausgeben. In Österreich gibt es pro Kind 700 Franken Zulagen monatlich. In der Schweiz streitet man sich, ob die Kinderzulagen von 190 auf 210 Franken erhöht werden sollen. Seit es die Pille gibt, kommen Kinder nicht mehr einfach so auf die Welt. Wir haben noch nicht eingesehen, dass die Gesellschaft in die Kinder investieren muss. Unser Handicap ist, dass es uns 40 Jahre lang zu gut ging und wir das Kleinfamilienmodell leben konnten. Wir sind wie verwöhnte Kinder, die nicht wahrhaben wollen, dass sich die Situation geändert hat.

Tipps von Remo Largo

Wie viel Zeit darf ein Zehnjähriger vor dem Fernseher verbringen?
Der TV-Apparat ist oft Babysitter. Die Frage ist also: Warum macht das Kind nicht etwas Sinnvolleres, mit anderen Kindern spielen beispielsweise? Damit sind wir wieder bei der mangelhaften Kinderbetreuung. Die Erfahrungen, die ein Kind vor dem Fernseher machen kann, sind sehr beschränkt: Häufig wird seine Wahrnehmung vom Tempo überfordert, der Inhalt entspricht nicht seinem Entwicklungsstand. Das Kind kann zudem auf das Geschehen am TV keinen Einfluss nehmen und ist zur Passivität verurteilt.

Wann muss eine Zwölfjährige abends ins Bett?
Es gibt keine Regel. Unter Zwölfjährigen variiert die Schlafdauer um mindestens vier Stunden. Die Eltern und das Kind wissen in der Regel auf die halbe Stunde genau, wie viel Schlaf das Kind braucht, damit es am Morgen ausgeschlafen und leistungsfähig ist.

Wann braucht ein Kind ein Handy?
Da kenne ich keine einfache Antwort. Für die Kinder ist das Handy ein Prestigeobjekt, für die Eltern eine finanzielle Belastung. Heute brauchen vor allem die Mädchen das Handy, um die sozialen Kontakte zu unterhalten. Es geht um Kommunikation. Früher ging man nach der Schule an der Haustür der Freundin klingeln, heute schreibt man eine SMS.

Wann soll ein Kind Englisch lernen?
Stundenweise Frühenglisch in der Schule: Davon halte ich wenig. Kinder lernen intuitiv eine Sprache, wenn sie ihr ausreichend und mit sinnvollen Handlungen verbunden ausgesetzt sind. Frontalen Sprachunterricht halte ich für unpädagogisch.

Ab wann braucht ein Kind Zugang zum Computer?
Sobald das Interesse da ist. Der Computer gehört zum Alltag. Kinder müssen lernen, ihn als Arbeitsinstrument zu benutzen. Früher waren es Griffel und Schiefertafel, dann Bleistift und Federhalter, jetzt ist es der Computer.