«Gut, dass du kommst», begrüsste mich meine Freundin Pia bei meinem letzten Besuch. «Raphael ist die ganze Zeit am Heulen», sprudelte es aus ihr heraus. Der sonst so quirlige Junge sass auf seinem Bett, starrte vor sich hin. «Hey, ich glaube, wir müssen bald die Feuerwehr rufen, damit sie das Tränenwasser abpumpt», begrüsste ich ihn. Er grinste, und dann taute er langsam auf und erzählte: «Julian hat schon wieder einen Sechser im Rechnen. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, mein Freund kann immer alles besser als ich.» – «Tja, das ist schwierig auszuhalten. Aber es gibt bestimmt vieles, was du genauso gut oder gar besser kannst als Julian», versuchte ich ihn zu trösten. Traurig schüttelte er den Kopf: «Ich kann überhaupt nichts», murmelte er.

Kindern stellt sich irgendwann die Frage: Was kann ich? Wo liegen meine Begabungen und meine Grenzen? Vergleiche mit Gleichaltrigen liegen auf der Hand. Fühlt sich ein Kind erst mal unfähig, wird es erst recht pessimistisch, mut- und antriebslos. Schon Gandhi sagte, der Mensch werde zu dem, was er zu sein glaube. Doch selbsterworbenes Wissen und eigene Erfahrungen sind für die Entwicklung des Selbstvertrauens entscheidend – Fehlschläge und deren Bewältigung inklusive.

Erleben Kinder immer wieder Misserfolge, hilft gutes Zureden wenig. «Nur eine echte Auseinandersetzung mit Misserfolgen wirkt ermutigend», sagt der US-Motivationsforscher Martin Seligman: «Entscheidend ist, wie man die Ursachen für Erfolg und Misserfolg deutet.» Denn Hilflosigkeit entsteht im Kopf. Ob man sich unfähig oder kompetent fühlt, liegt an der eigenen Wahrnehmung einer Situation.

Deshalb überlegte ich mit Raphael, ob er zu wenig Mathe gelernt habe, zu müde war oder abgelenkt wurde. Ich versuchte, seine negativen Gedanken und Gefühle zu ersetzen mit optimistischen, konstruktiven Überlegungen. Ich sagte: «Du bist nicht dumm, du bist gewissenhaft und überlegst alles genau. Das ist gut und nützlich.»

Echte Erfolge machen überall stärker

Damit Kinder am Ball bleiben, brauchen sie jedoch unbedingt Erfolgserlebnisse. «Lernen», so Seligman, «heisst im Wesentlichen, Lust zu optimieren und Schmerz zu vermeiden.» Allerdings bringt es nichts, Aufgaben so weit zu vereinfachen, dass garantiert nichts schiefgeht. Kinder merken solche Tricks, Selbstvertrauen und Ausdauer können so nicht wachsen. Erfolgserlebnisse stellen sich ein, wenn man die Materie beherrscht. Deshalb tun Eltern gut daran, bei ihrem Kind auf Talentsuche zu gehen. Wenn Kinder etwas entdecken, was ihnen liegt und erst noch Spass macht, gelingt meist auch das besser, was sie gemeinhin weniger gut beherrschen.

Deshalb schlug ich Raphaels Mutter vor, zu beobachten, was ihm besonders Freude macht und ihn interessiert. Das würde bestimmt helfen, um ihm Mut zu machen. Und dann besann sich Raphael doch noch auf seine Stärken: Im Sport und beim Musizieren, da sei er gut, meinte er. Ausserdem möge sein Kollege Julian sein fröhliches Naturell. Und was zählt, sei in erster Linie ohnehin ihre Freundschaft. n

Buchtipp

Martin E. Seligman: «Der Glücks-Faktor. Warum Optimisten länger leben»; Bastei-Lübbe, 2011, 480 Seiten, CHF 14.90