Honesty, der zehnjährige Bluthund, legt sich umständlich auf den rutschigen Schulzimmerboden und ruht ein wenig aus von der langen Anfahrt nach Erlinsbach im Kanton Solothurn. Und schaut sich um. Haufenweise Bücher und überall Zeichnungen, bunte Unterlagen auf den Pulten und perfekt geschriebene Schnürlischrift an der Wandtafel. Die Sonne scheint an diesem Morgen hell und warm durch die grossen Fenster ins Klassenzimmer der 14 Zweit- und Drittklässler und ihrer Lehrerin Dagmar Gerber. Sämtliche Blicke richten sich jetzt auf Honesty – ist dieser Hund wirklich harmlos? Grosse Hängebacken, riesiges Maul, blutunterlaufene Augen – eindeutig kein Kuscheltier. «Der Name bedeutet ‹Ehrlichkeit›», erzählt Hundeführerin Verena Grünig und fügt hinzu: «Das passt.» Die Kinder nehmen es zur Kenntnis.

Verena Grünig ist Tierpsychologin und besucht gemeinsam mit ihrer vierbeinigen Begleiterin Primarschulklassen – im Namen der Konrad-Lorenz-Tierschule des IEMT Schweiz, des Instituts für interdisziplinäre Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung. Die Tierfachfrau lehrt den Umgang mit Haustieren und was eine artgerechte Tierhaltung ist. «Kinder können von Haustieren sehr viel für die eigene Entwicklung profitieren», ist die ehemalige Lehrerin überzeugt.

Streicheln mit angehaltenem Atem

Honesty steht auf, es geht an die Arbeit. Rundum darf die Kinderschar den grossen, reinrassigen Jagdhund streicheln, wer Angst hat, kann einen Schritt zurücktreten. Einige Kinder berühren das Tier mit angehaltenem Atem, andere etwas forscher. «Grüezi, grüezi!» Alle sind ruhig und rücksichtsvoll. Wie reagiert Honesty? Mag sie das?

Sie mag es. Und Spiele auch. Ihre sensible Nase findet unter zahlreichen Blumentöpfen sofort denjenigen mit einem Hundeguetsli drunter. Und ausgelassen wirft sie PET-Flaschen um, die in Reih und Glied aufgestellt sind, beisst und zieht an kaputten Socken, kann sogar Päckli auspacken. Die acht- und neunjährigen Kinder sind begeistert. Dann erzählt die Hundechefin von Honestys Erziehung – welche Streiche sie begangen hat und wie viel Geduld nötig war, bis sie nicht mehr in die Wohnung pinkelte. «Ich weiss, wie man Kot aufnimmt, ohne sich die Hände schmutzig zu machen», ruft Benedikt dazwischen. Und führt es mit einem Plastiksäckchen gleich vor. «Ja, das ist ganz wichtig», bekräftigt die Hundeerzieherin.

Einmal Spürhund, immer Spürhund

Honesty arbeitete in den vergangenen Jahren regelmässig für die Polizei, suchte nach vermissten Menschen und half gar Verbrechen aufzuklären, erzählt die engagierte Fachfrau. Die Hündin kann sich mit grosser Beharrlichkeit über viele Stunden ohne Pausen konzentrieren. Ihr einzigartiges Geruchsorgan lasse sie Personen finden, von denen sie nur ein Haar beschnuppern konnte, oder einen Gegenstand, den die gesuchte Person nur einmal in der Hand gehalten habe. «Bluthunde sind die grössten Spürnasen unter den Hunden.»

Um diese Fähigkeit sogleich zu testen, wird auf dem Schulhof mit einem Zählvers die zierliche Schülerin Jana dazu erkoren, sich im Dorf irgendwo zu verstecken. In der Zwischenzeit bekommt Honesty ein Leitgeschirr übergezogen. Und einmal gestartet, ist die Gute nicht mehr zu bremsen. Wie im Rausch verfolgt sie den Geruch von Jana, lässt sich durch nichts ablenken und vergisst sogar das Pinkeln. Die ganze Klasse läuft in hohem Tempo dem sportlichen Duo hinterher und wundert sich, wie die alte Hündin die Abzweigungen mühelos schafft – abrupt gestoppt durch die Entdeckung von Jana, die sich hinter einem Baum versteckt hat. Lautes Gejaule und heftiges Schwanzwedeln. Die Kinder freuen sich, sind beeindruckt und wollen nicht mehr aufhören, Honesty zu streicheln: «So ein liebes, intelligentes Tier. Wau!»

«Fehlt der Zugang zu Tieren, verpasst man viel im Leben»

RTEmagicC_Tier2.jpg.jpgTierpsychologin Verena Grünig ist überzeugt, dass Haustiere Kinder in ihrer persönlichen Entwicklung fördern können.


Beobachter: Was möchten Sie mit Ihren Besuchen bei den Schülerinnen und Schülern erreichen?
Verena Grünig: Ich möchte, dass die Kinder Tiere als interessante und liebenswerte Lebewesen mit jeweils eigener Persönlichkeit kennenlernen.

Beobachter: Inwiefern fördern Haustiere die Entwicklung von Kindern?
Grünig
: Einfühlungsvermögen, Verantwortungsbewusstsein und Konfliktfähigkeit werden gefördert. Die Sozialkompetenz nimmt zu. Durch den Kontakt zu einem Heimtier lernt ein Kind, sich auf ein anderes Lebewesen einzustellen, und merkt, dass für dieses ganz andere Bedürfnisse wichtig sind. Zudem machen Kinder mit Tieren wertvolle Erfahrungen zu Leben und Tod. Das alles klappt aber nur, wenn sie gut angeleitet werden und die Eltern die Verantwortung für das Tier übernehmen.

Beobachter: Kann ein Hund Geschwister ersetzen?
Grünig
: Ersetzen nicht, das Tier ist kein Mensch. Aber gerade einem Einzelkind bringt ein Haustier sehr viel. Es hat einen Kameraden, der immer da ist. Kinder erfahren durch ihre Tiere auch viel Trost.

Beobachter: Sie besuchen mit Ihrem Hund auch verhaltensauffällige Kinder. Wie reagieren diese?
Grünig
: Das Interesse ist auch da. Sie können sich oft einfach nicht so lange konzentrieren. Aber auch sie lernen, dass man auf Tiere Rücksicht nehmen muss. Ich möchte bei meinen Schulbesuchen Kinder und Tiere auf eine gute Art zusammenführen – das kann auch bei schwierigen Kindern gelingen.

Beobachter: Fördern Haustiere allgemein das Mitgefühl?
Grünig
: Ja, denn ein respektvoller Umgang mit Tieren wirkt sich auch auf das Verhalten gegenüber anderen Lebewesen aus. Damit begegnet man den Mitmenschen und der Natur überhaupt mit mehr Rücksicht und Mitgefühl.

Beobachter: Können Sie durch Ihren Unterricht Hundebisse verhindern?
Grünig
: Je früher Kinder lernen, das Verhalten der Hunde zu verstehen und sich in diese Tiere einzufühlen, desto eher können sie entsprechend reagieren.

Beobachter: Warum haben Erwachsene manchmal ein Leben lang Angst vor Hunden?
Grünig
: Oft hatten diese Menschen keine Gelegenheit, positive Erfahrungen mit Hunden zu machen und sie als Freund zu erleben. Viele haben Angst, weil sie das Verhalten der Hunde nicht einschätzen können. Sie suchen selten Hilfe bei einem Therapeuten, wobei die beste Therapie oft ein eigener junger Hund wäre. Fehlt der Zugang zu Tieren, verpasst man sehr viel im Leben.