«Welche Begriffe kennt ihr für die Geschlechtsorgane?», fragt Gion Rüegg in die Runde. Die Stichprobe zeigt: Den 13- bis 15-Jährigen im zürcherischen Kilchberg sind medizinische und umgangssprachliche Bezeichnungen geläufig – auch die deftigeren Varianten. Also redet auch der 25-jährige Medizinstudent Klartext; er kann «Schwanz» sagen, ohne dass gleich jemand geschockt ist oder rote Ohren bekommt.

Das vierköpfige «Achtung Liebe»-Team gibt an diesem Morgen Aufklärungsunterricht in der zweiten Sek in der Offenen Tagesschule Brunnenmoos. Simon Weinmann, Heather Dawson und Nicole Plesko haben Tüten voller Anschauungsmaterial mitgebracht – Unterleibsmodelle, Kondome, Bananen. Kichernde Mädchen in Röhrenjeans sitzen ihnen gegenüber, eine Clique frotzelnder Jungs steckt die Köpfe zusammen. Dazwischen einzelne Mädchen und Buben, die das aufgekratzte Treiben skeptisch beobachten.

«Was sich wo unterhalb der Gürtellinie befindet und wozu – das ist für viele Teenager ein grosses Fragezeichen», erklärt Gion Rüegg. Deshalb sei es wichtig, Geschlechtsteile zu benennen und zu lokalisieren – Anatomieunterricht im Kleinen.

Quelle: Andreas Eggenberger
«Tut der erste Sex weh?»

Nicole Plesko, sie wird bald Mama, pflichtet ihrem Kollegen bei. Nur wer den Körper seines Freundes oder seiner Freundin kenne, werde gut damit umgehen – und beispielsweise merken, dass eine Klitoris Feingefühl liebt. Das männliche Pendant, die Eichel, übrigens auch. «Lernt zu sagen, was ihr gernhabt und was nicht», betont die Studentin. «Und ob ihr etwas wollt oder nicht.» Kreativ zu sein beim Sex, das sei okay – aber nur wenn beide damit einverstanden sind. Dazu müsse man natürlich erst einmal herausfinden, was einem gefällt. «Allein schon aus diesem Grund ist es weder für Mädchen noch für Jungen verwerflich, sich selbst zu befriedigen.»

Wie sich herausstellt, sind die Jugendlichen aus Kilchberg nicht nur beim Vokabular auf dem Laufenden: Die Mädchen sollen aufzeichnen, was einen Mann zum Mann macht; die Jungs, was die Merkmale einer Frau sind. Die Grüppchen machen sich mit Geplapper und Gelächter über die beiden grossen Papierbögen her. Schülerinnen bestücken den geschlechtslosen Körperumriss flink mit Penis, Schwellkörper, Eichel, Harnröhre, Prostata und Hoden. «Die Eier», fügt ein Mädchen grinsend an. Die Buben werkeln eifrig an der Ausgestaltung von Brüsten und gekräuseltem Schamhaar. Die Details haben sie schon aufgemalt – auch die inneren Geschlechtsorgane. Wozu das alles da ist? «Die Vagina nimmt den Penis auf, das Menstruationsblut fliesst dadurch ab, und fürs Baby ist es der Geburtskanal», doziert einer der Buben.

Aufklärungsunterricht steht ohnehin auf dem Lehrplan; wozu also noch die Lektionen mit «Achtung Liebe»? Biologielehrerin Anita Stocker möchte, dass Jugendliche ungeniert fragen können, was sie umtreibt. Denn: «Ich bin ihre Lehrerin, mir wollen sie verständlicherweise keine intimen Details anvertrauen.» Deshalb hat sie das Studententeam gebucht. Oberstes Prinzip: Wenn es in die Klassen kommt, bleiben die Lehrer draussen.

Nicole Plesko erklärt, sie könne sich gut in die Jugendlichen hineinversetzen: «In der Pubertät tauchen so viele Fragen auf, und man schleppt jede Menge Ängste und Unsicherheiten mit sich herum.» Da sei man einfach froh, mal offen und ungestört mit jemandem reden zu können. Sie hat es vermisst während ihrer Schulzeit – einer der Beweggründe für die Aktion «Achtung Liebe». Erstaunlich findet die 25-Jährige, wie hartnäckig sich manche Mythen halten. Jene ums Jungfernhäutchen zum Beispiel. «Tut es weh, wenn es reisst beim ersten Sex?», werde sie immer wieder gefragt. Das muss überhaupt nicht der Fall sein, beruhigt die Studentin dann. Oft ist das Häutchen ohnehin schon gerissen, beim Sport zum Beispiel. Und ausserdem: «Wichtig beim ersten Mal ist, seinem Freund zu vertrauen, Lust zu haben, entspannt zu sein – der Zeitpunkt muss stimmen.»

«Immer schön röllala, röllala, röllala»

Jugendliche sollen ihre eigene Sexualität leben, findet das «Achtung Liebe»-Team. Und zwar unabhängig davon, was alles auf sie einprasselt. Wichtig dabei: Fakten sammeln, althergebrachte Ansichten hinterfragen, Vorurteile abbauen und sich nicht unter Druck setzen lassen. «Wer verinnerlicht, dass Pornographie absolut nichts mit der Realität zu tun hat, ist schon mal auf der richtigen Spur», sagt Nicole Plesko. Die intimsten Fragen beantwortet das «Achtung Liebe»-Team in kleiner Runde: Die Mädchen verziehen sich mit einer Studentin in ein anderes Zimmer. Die Buben sitzen mit Gion Rüegg zusammen. «Ist es schädlich, zweimal am Tag zu onanieren?», will einer wissen. «Quatsch», beruhigt der Student. «In der Pubertät ist das völlig natürlich.» Und ebenso normal, wie es nur einmal die Woche zu tun. Oder noch seltener. Oder gar nicht. Es geht sachlich zu in der Gruppe.

Ernste Mienen auch beim Thema Geschlechtskrankheiten: keine Sprüche, keine Witze. Viele wussten nicht, dass das Risiko, sich beim ungeschützten Geschlechtsverkehr mit Aids anzustecken, für Frauen dreimal höher ist als für Männer. Zudem gibt es eine ganze Reihe anderer sexuell übertragbarer Krankheiten, die alles andere als harmlos sind. Chlamydien etwa haben geschätzte 100'000 Personen in der Schweiz. Die bakterielle Infektion ist ansteckend; es kann länger dauern, bis man es merkt. Bleibt sie unbehandelt, können Männer wie Frauen unfruchtbar werden. «Es ist wichtig, dass ihr euch schützt, am besten mit Kondomen», sagt Nicole Plesko. Und: «Kümmert euch um Verhütung, redet darüber, und zwar vor dem ersten Sex – verlasst euch nicht darauf, dass schon nichts passieren wird.» Eine Schwangerschaft zu riskieren und dann die «Pille danach» zu nehmen sei der denkbar schlechteste Weg.

Das richtige Überziehen des Kondoms muss geübt werden: Es folgt die Lektion an Banane und Penismodell. Schlagartig wechselt die Stimmung. Zwei Schülerinnen krümmen sich vor Lachen. Eine klemmt die Banane zwischen die Oberschenkel; die andere hat das Kondom vorsichtig mit spitzen Fingern aus der Schutzhülle genommen, fasst es ordnungsgemäss am Zipfelchen und setzt es der Banane als Hütchen auf. «Und jetzt immer schön röllala, röllala, röllala», tönen die Studenten im Duett. Die Jugendlichen machen ausgelassen mit – und finden das Gleitmittel auf den Kondomen «voll eklig». Eine riesige Gaudi im Schulzimmer, doch es geht nicht ums Herumalbern: «Wir wollen einen bewussten und verantwortungsvollen Umgang mit der Sexualität fördern», so das Motto der Studenten von «Achtung Liebe». Der Weg dorthin soll aber nicht nur ernst sein, sondern Spass machen – der Sex später ja schliesslich auch.

Weitere Infos und Online-Beratung

www.lilli.ch: viele Infos zu allen Themen rund um Sexualität. Zudem können Jugendliche anonym Fragen stellen.

www.achtungliebe.ch: Das Team bietet Aufklärungsunterricht an Schulen. Das Angebot ist auf den Raum Zürich beschränkt.

www.durchblick.ch
www.look-up.ch
www.samowar.ch