Meine Mutter rätselt ja heute noch, ob sie nicht doch einen riesigen Fehler gemacht hat, damals. Sie liess mich nämlich nach London ziehen, ganz allein. Mitten in der Pubertät. Sie war der Meinung, ein paar Monate Intensiv-Englisch seien eine gute Investition in die Zukunft. Dass meine Mutter heute noch - gut 20 Jahre später - an der Richtigkeit dieses Entscheids zweifelt, irritiert mich zwar ein wenig, aber ich verstehe: Es war ein grosser Entscheid in einer wichtigen Zeit. Denn ich tat, was in diesem Alter alle tun: nach Autonomie streben, neue Beziehungen aufbauen und zu den Eltern auf Distanz gehen. Kein Wunder, fürchten Eltern, an Einfluss zu verlieren. Nicht nur, wenn das Kind 1000 Kilometer entfernt ist, sondern auch, wenn es sich nur schon abends mal mit Freunden trifft.

Die neuen Bezugspersonen in diesem Lebensabschnitt heissen in der Fachsprache Peers. Auch Geschwister zählen dazu, doch wenn sich Eltern und die Fachwelt - Soziologen, Psychologen, Pädagogen und Suchtexperten - über Peers Gedanken machen, geht es meistens um Cliquen und Gangs. Seit Jugendgewalt und Drogenmissbrauch die Diskussionen um den Nachwuchs dominieren, geht es vermehrt auch um Prävention und damit erst recht um die Frage, wer welchen Einfluss auf diese jungen Menschen hat.

Während in der Gewalt- und Drogenfrage konservative Kreise gern auf mehr Strenge und Härte an Schulen und in Elternhäusern pochen, erklären Neurologen, der Teenager an und für sich - beziehungsweise sein Gehirn - befinde sich in einem Ausnahmezustand. Da gebe es massive Störungen, Nervenverbindungen würden komplett umgebaut. Das führe zu Verwirrung und Unsicherheit und sei der Grund, weshalb Teenager oft so gereizt sind. Und zuweilen unausstehlich. Eltern sehen das weniger rational als die Wissenschaft. Und sie wissen nicht, wie lange dieser Zustand beim Nachwuchs andauern wird. Das macht Angst.

Es ist deshalb nicht überraschend, dass im Beobachter-Familienmonitor die Mehrheit der Väter und Mütter mit Kindern vom Säuglingsalter bis zu 18 Jahren Sorgen nennen, die mehrheitlich Teenager betreffen:

  • So hat jeder Vierte Angst davor, dass sein Kind in schlechte Kreise geraten könnte.
  • An zweiter Stelle mit nur minim weniger Nennungen steht die Angst, das eigene Kind könnte anfangen zu rauchen oder gar zum Alkoholiker oder Drogensüchtigen werden.
  • Auch Platz drei ist auf Pubertierende gemünzt: die Angst vor Problemen bei der Lehrstellensuche und Sorgen um die berufliche Zukunft des Sprösslings.


Erst an vierter, fünfter und sechster Stelle stehen allgemeinere Befürchtungen wie Unfallgefahr, Probleme in der Schule und die Sorge um die Gesundheit.

Dass der Eltern grösste Sorge schlechter Umgang ihrer Kinder ist, heisst: Sie fürchten den Einfluss, den Peers auf ihr Kind ausüben. Bange fragen sie sich: Sind all die Werte, die wir dem Kind vermittelt haben, stabil genug, um fremden Einflüssen standzuhalten?

Die Eltern dürfen ein bisschen stolz sein
Bis Ende der neunziger Jahre hätte kaum ein Experte gezögert, diese Frage zu bejahen, es galt als sicher, was Sigmund Freud gelehrt hatte: Kinder werden ganz fundamental von ihrer Familie geprägt. Doch dann kam die Psychologin Judith Rich Harris und stellte alle Erkenntnisse und Theorien auf den Kopf. Die Amerikanerin sagte: Alles Quatsch, der Einfluss der Eltern ist gleich null, mal abgesehen von den Genen, die sie weitergeben. Die Peergroup ist das alles Entscheidende! Mittlerweile sind zehn Jahre vergangen, und die radikale Harris-These wurde im In- und Ausland zwar von mehreren Studien widerlegt. Aber Harris hat das Unbehagen der Eltern zum Thema gemacht wie niemand vor ihr - diese Auseinandersetzung war notwendig, um heute mit gutem Gewissen sagen zu können: Die Peers sind wichtig, sehr sogar, aber die Eltern haben Einfluss. Erheblichen.

Welcher Art dieser Einfluss ist, zeigt die grossangelegte Schweizer Langzeitstudie «Cocon», Teil des Nationalen Forschungsprogramms 52 «Kindheit, Jugend und Generationenbeziehungen» (NFP 52). Die Untersuchung wird vom Jacobs-Center durchgeführt, das der Uni Zürich angeschlossen ist und interaktive Forschung im Bereich der Jugendentwicklung betreibt. Gemäss ersten Resultaten der Studie verfügen Jugendliche entgegen der gängigen Meinung nicht nur über ein hohes Mass an Mitgefühl - sie sind auch bereit, im Leben Verantwortung zu übernehmen. «Soziale Gerechtigkeit» bewerten die Jugendlichen in der Studie besonders hoch. Das lässt die Erwachsenen aufatmen - und insbesondere die Eltern dürften eigentlich auch ein bisschen stolz sein. Denn das ist zu einem grossen Teil das Verdienst der Väter und Mütter.

Oder wie Tina Malti, klinische Entwicklungspsychologin und Oberassistentin am Jacobs-Center, sagt: «Die Befunde zeigen, dass sich Familienbeziehungen positiv auf prosoziales Verhalten, Identitätsprozesse und die moralische Entwicklung auswirken, vor allem wenn die Beziehung von den Jugendlichen als unterstützend erlebt wird.» Eine solche Beziehung zu den Eltern kann laut Malti wirksam mithelfen, Aggression und Gewalt zu verhindern. Und August Flammer, emeritierter Professor der Universität Bern, sagt: «Verschiedene Studien haben gezeigt, dass sich die meisten Kinder und Jugendlichen in wichtigen Fragen nach den Normen der Eltern richten. So bei der Berufsorientierung, bei schulischen Ansprüchen, bei der religiösen Orientierung.» Auch Beate Schwarz, Entwicklungspsychologin an der Universität Basel, schätzt den Einfluss der Eltern hoch ein: «In der Familie lernt man Sozialverhalten. Eltern haben Einfluss auf die sozialen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen.»

Fachleute sind sich zudem einig, dass eine solche Entwicklung der kinder durch die sogenannt autoritative Erziehung am besten gefördert wird. «Autoritativ» vereint das Gute der Pole «autoritär» und «antiautoritär»: Unter dem Motto «Freiheit in Grenzen» soll das Kind die Wertschätzung der Eltern spüren und sich in einem Klima von Wärme, offener Kommunikation, klaren Regeln und Vertrauen zum selbständig denkenden Individuum entwickeln können. Wenn die «Cocon»-Forscher im Mai mit dem «Kindheits- und Jugendbericht Schweiz» einen weiteren NFP-52-Bericht veröffentlichen, haben sie Überraschendes zu vermelden: dass autoritativ erzogene Jugendliche über höheres moralisches Verhalten verfügen, was einhergeht mit einem besseren Demokratieverständnis.

Eine neumodische Erfindung ist diese Form der Erziehung übrigens nicht, wie August Flammer sagt: «Die Unterscheidung zwischen autoritär und autoritativ ist schon sehr alt.» Heisst die Antwort auf alle Erziehungsprobleme nun also «autoritativ»? Können Eltern so auch schlechten Einflüssen durch Gleichaltrige vorbeugen? Tina Malti vom Jacobs-Center: «In einer durch hohe konstruktive Kommunikation geprägten Beziehung vermitteln Eltern ihrem Kind einen positiven Selbstwert, ohne überkontrollierend zu sein. Das kann, muss aber nicht dazu beitragen, dass Jugendliche konstruktive Peerbeziehungen wählen.»

Für Peers gilt, was auch Liebenden nachgesagt wird: Gleich und gleich gesellt sich gern. Wichtige Kriterien können der Musikgeschmack sein oder auch andere Interessen sowie das Geschlecht, der Entwicklungsstand, der soziale Lebensraum, die ethnische Herkunft. «Innerhalb der Gruppe», sagt Beate Schwarz von der Universität Basel, «geschieht dann eine gegenseitige Verstärkung von Verhaltenstendenzen - im Guten wie im Schlechten.»

Die Freundin als wichtigste Ansprechperson
Dass ein Kind in problematische Kreise kommt, kann viele Ursachen haben, für Beate Schwarz ist die Wahrscheinlichkeit bei Jugendlichen, die zu Hause Aggression, übertriebene Strenge oder auch Desinteresse erleben, grösser. Und Tina Malti ergänzt: «Wenn ein Jugendlicher beispielsweise emotional instabil ist und keine eigene Identität findet, kann er durch eine negative Identität seine Angst überdecken. Auch soziale Ursachen wie Arbeits- und Perspektivlosigkeit - respektive die Angst davor - sowie wenig soziale Unterstützung aus der Familie können zu Alkohol-, Drogenkonsum und Gewalt beitragen.» Forschungsbefunde würden zeigen, dass emotionale Vernachlässigung das Vertrauen in andere beeinträchtige.

Gleichaltrige sind für Jugendliche von immenser Wichtigkeit. Diskussionen, Aktivitäten und emotionale Nähe zu Peers haben Einfluss auf ihre individuelle Entwicklung. Wer keine Kollegen hat, ist isoliert und neigt laut Malti eher zu einer depressiven Entwicklung. Aus einer 2002 durchgeführten Studie des Bundesamts für Gesundheit geht denn auch hervor, dass für Mädchen Freundinnen (oder Freunde) die ersten Ansprechpersonen sind, wenn sie psychische Probleme haben, erst dann die Familie. Zugleich zeigt dieselbe Erhebung, bei der 7428 Jugendliche befragt wurden, dass auch aus ihrer Sicht die Familie einen hohen Stellenwert einnimmt: Ganze 85 Prozent werteten die Beziehung zu den Eltern als positiv.

Das deutet darauf hin, dass Eltern hierzulande mit ihren kindbezogenen Sorgen umzugehen wissen. Oder zumindest, dass sich ihre Ängste nicht so unkontrolliert gebärden wie in den USA: Dort prüfen Väter und Mütter ernsthaft, ihren Kindern Überwachungs-Videogeräte mitzugeben, wenn sie das Haus verlassen.

«Wie schätzen Sie die Beziehung zu Ihren Kindern ein?»

Eltern und ihre Kinder - eine emotionale Bindung, die stärker kaum sein könnte: Fast alle, nämlich 93 Prozent der Eltern, bezeichnen die Beziehung zum Nachwuchs als «sehr eng» (61%) oder zumindest als «eher eng» (32%); nur sechs Prozent erleben sie als distanziert. Ein vertiefter Blick in die Ergebnisse des Beobachter-Familienmonitors zeigt jedoch Differenzierungen aufgrund des Alters der Kinder. Je älter die Töchter und Söhne sind, umso weniger eng ist nach dem Empfinden der Eltern die Beziehung: Sagen noch 88 Prozent der Eltern von Kleinkindern unter sieben Jahren, die Beziehung sei «sehr eng», sind es bei der Gruppe der Sieben- bis Zwölfjährigen noch 57, bei den 13- bis 18-Jährigen noch 55 Prozent. Und wenn die Kinder erwachsen sind, liegt die Rate der «sehr engen» Beziehungen noch bei 36 Prozent.

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«Wie oft stossen Sie bei der Erziehung an Ihre Grenzen?»

Alles im Griff im Alltag mit dem Nachwuchs? Annähernd die Hälfte der Eltern von Kindern unter 18 Jahren winkt ab: Stimmt nicht, sagen sie, mitunter wissen wir nicht mehr weiter. Dass im Beobachter-Familienmonitor total 45 Prozent der Befragten einräumen, bei der Erziehung manchmal (33%), oft (11%) oder sehr oft (1%) an ihre Grenzen zu stossen, ist ein erstaunlicher Wert - denn wer gesteht schon gern eigene Schwächen ein? Auf die Frage, in welchen Situationen es zu starken Überforderungsgefühlen kommt, zeigt sich indes keine typische Antwort: Die Erziehenden haben mit einer breiten Palette von Aufgabenstellungen ihre liebe Mühe - am häufigsten, wenn die Kinder partout nicht gehorchen wollen oder wenn es in der Schule nicht klappt.

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