Die Zahlen machen nachdenklich: In der Schweiz werden mehr als 35'000 Kinder unter zweieinhalb Jahren manchmal bis sehr häufig mit Schlägen auf den Hintern bestraft, bei den Vier- bis Siebenjährigen sind es laut einer Studie der Universität Freiburg aus dem Jahr 2004 sogar mehr als 37'000 Kinder.

Der Kinderschutz Schweiz nimmt den «No Hitting Day», den Internationalen «Tag der gewaltlosen Erziehung» vom 30. April, zum Anlass, um auf die Problematik aufmerksam zu machen. Denn: «Körperliche Gewalt in der Erziehung wird in der Gesellschaft heute noch viel zu häufig toleriert und als normal beurteilt», stellt Andrea Hauri vom Kinderschutz Schweiz fest. Bislang sind hierzulande denn auch sämtliche Forderungen nach einem Gesetz gegen die Körperstrafe erfolglos geblieben.

Im vergangenen Jahr hat die Berner SP-Nationalrätin Ruth-Gaby Vermot erneut einen Anlauf genommen und mit einer parlamentarischen Initiative einen «verbesserten Schutz für Kinder vor Gewalt» gefordert. Im Gegensatz zur Schweiz sind in elf Staaten Europas Körperstrafen heute schon gesetzlich verboten.

Leider gebe es ja immer noch Kreise, die glaubten, wer seine Kinder liebe, der züchtige sie, sagt Linard Bardill. Der Bündner Musiker, bekannt für seine feinfühligen Kinderlieder, macht sich heute für eine gewaltfreie Erziehung stark. In der Vergangenheit war ihm ebenfalls ab und an die Hand ausgerutscht.

Beobachter: Sie haben Ihren ältesten Sohn geschlagen?
Linard Bardill: Ja. Immer dann, wenn ich mit einer kindlichen Provokation nicht umgehen konnte und die Hoffnung verlor, meinen Willen und meine Erziehung zu einem guten Punkt zu bringen, habe ich geschlagen.

Beobachter: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Bardill: Auf dem Weg zu einem Besuch trat mein Sohn mit den neuen Schuhen und den sauberen Kleidern in eine Pfütze. Ich sagte, er soll das bleiben lassen, worauf er den Vorgang wiederholte - bis ich zuschlug.

Beobachter: Ging Ihnen oft die Geduld aus?
Bardill: Nein. Aber wenn man schlägt, schlägt man eben immer wieder. Dieser Mechanismus wird auch vom Kind verinnerlicht.

Beobachter: Sie haben in Ihrer Jugend selber ebenfalls Gewalt erlebt und müssten eigentlich wissen, was da in einem Kind vorgeht.
Bardill: In mir kamen jeweils überdimensionale Empörung, Hass und Phantasien von Gegengewalt hoch. Und die Gewissheit, dass der Schlagende eines Tages dafür büssen wird.

Beobachter: Wer Gewalt erfährt, gibt sie also weiter?
Bardill: Ja, denn ich glaube, die Schwelle zu schlagen ist niedriger, wenn man selber geschlagen wurde.

Beobachter: Wie hat Ihr Sohn auf die Schläge reagiert?
Bardill: Er hat geweint, sich zurückgezogen und in sich selbst verkrochen.

Beobachter: Hatten Sie nach solchen Auseinandersetzungen ein schlechtes Gewissen?
Bardill: Ich litt immer, wenn ich schlug.

Beobachter: Und taten es dennoch. Warum?
Bardill: Aus Wut auf das Kind. Beim Schlagen hat man einen Moment lang das Gefühl, etwas Richtiges getan zu haben. Dann folgte bei mir aber sofort Ohnmacht, Frust und die Gewissheit, dass es falsch und kontraproduktiv war.

Beobachter: Geändert haben Sie Ihr Verhalten aber nicht.
Bardill: Ich habe mich zwar entschuldigt, und das Kind hat die Entschuldigung nonverbal auch angenommen. Doch schliesslich habe ich mich wegen der gegenseitigen Frustration entschlossen, nie mehr zu schlagen. Wenn man schlägt, ist man am Ende. Wenn man miteinander spricht, ist man am Anfang.

Beobachter: Sie haben gesagt, wer schlage, tue dies immer wieder. Konnten Sie einfach so aufhören?
Bardill: Das kam irgendwie plötzlich. Meine Kinder sollten meine Überforderung nicht mehr als Gewalt erleben. Und damit basta.

Beobachter: Tatsächlich?
Bardill: Natürlich war ein Bewusstwerdungsprozess nötig. Ich musste den Mut aufbringen, mich selber anzuschauen, mich aus Distanz zu sehen. Wichtig war auch die Erkenntnis, dass Gewalt nichts bringt ausser Frust und Rachegefühle.

Beobachter: Wie haben Sie es konkret geschafft?
Bardill: Ich habe mit mir einen Pakt geschlossen, dass ich nie wieder schlagen werde. Diesen Pakt habe ich im Tagebuch festgehalten. Das war vor zwölf Jahren. Wenn es heute mit meinen beiden kleinen Kindern zu Situationen vermeintlicher Hilflosigkeit kommt, denke ich an diesen Pakt.

Beobachter: Wie handeln Sie jetzt in Momenten, die Sie zu überfordern drohen?
Bardill: Ich versuche Distanz zu schaffen zwischen dem unmittelbaren Problem, mir und dem Kind. Oft führe ich das Kind dann ohne grosses Brimborium in sein Zimmer und sage ihm, es solle über sein Tun nachdenken. Ich müsste das auch tun. Es kann auch sein, dass wir uns gemeinsam setzen und auf zehn oder zwanzig zählen.

Immer wieder befinden sich Eltern in Situationen, in denen ihnen die Geduld auszugehen droht. Hier einige Tipps von Kinderschutz Schweiz, um eine Eskalation zu verhindern:

  • Atmen Sie tief durch.
  • Gehen Sie auf den Balkon, in den Garten oder machen Sie einen kurzen Gang ums Haus.
  • Sagen Sie laut das Alphabet auf oder zählen Sie langsam bis 20.
  • Telefonieren Sie mit nahestehenden Personen.
  • Machen Sie sich einen Kaffee oder einen Tee.
  • Nehmen Sie ein warmes Bad oder eine Dusche.