Frage: Ich kann mich gut in andere Menschen einfühlen. Aber ich habe Probleme mit der Abgrenzung. Immer wieder merke ich, dass ich Dinge tue, die ich eigentlich gar nicht will, bloss um des lieben Friedens willen. Das passiert mir vor allem mit Menschen, die mir nahe stehen, zum Beispiel mit meiner letzten Freundin. Irgendwie fühle ich mich dann plötzlich ausgenützt. In einer Ihrer Kolumnen haben Sie geschrieben, eine solche Verhaltensweise könnte mit einem emotionalen Missbrauch in der Jugend zusammenhängen. Können Sie mir das genauer erklären?

Koni Rohner, Psychologe FSP:
Sie sind zu wenig egoistisch, denn Sie nehmen den Willen und die Bedürfnisse anderer Menschen ernster als Ihre eigenen. Irgendwann müssen Sie dieses Verhalten gelernt haben, denn ein gesundes Baby kämpft selbstsüchtig für die Befriedigung seiner Bedürfnisse: Es schreit nach dem, was es braucht.

Ich nehme also an, dass diese Entwicklung bei Ihnen schon ganz früh gehemmt wurde; auf die Durchsetzung Ihrer Wünsche zu verzichten sitzt Ihnen sozusagen in den Knochen. Vermutlich haben Ihre Versuche, sich als Kleinkind zu behaupten und den kleinen Kopf durchzusetzen, bei Ihren Pflegepersonen kein Echo gefunden – oder sogar Zurückweisung ausgelöst. Und da Sie so schon mal zum «lieben» Kind geworden waren, wurden Sie in einem nächsten Schritt vielleicht auch noch zum Missbrauchsopfer.

Für sexuellen Missbrauch und Gewalt gegenüber Kindern sind wir alle sensibilisiert. Wir wissen, welche Schäden eine Überschreitung der Körpergrenzen in der kindlichen Seele anrichten können. Der viel subtilere emotionale Missbrauch dagegen ist nicht so bekannt, weil er weniger spektakulär ist. Aber er schädigt die Entwicklung der Persönlichkeit ebenso nachhaltig – und er ist sehr verbreitet.

Die «Täter» sind ganz normale Eltern, die ihre Probleme den Kindern aufladen. In der Regel unbewusst, denn Eltern wollen bewusst sicher das Beste für ihre Kinder. Das häufigste Muster besteht darin, dass Frauen in ihrer Ehe unglücklich sind und sich von den beruflich übermässig engagierten Ehemännern vernachlässigt fühlen.

Als emotionale Stütze bieten sich nun die Kinder an, denn die sind öfter zu Hause als ihr Vater. Ausserdem lieben sie in der Regel die Eltern bedingungslos, trotz ihren Fehlern und Schwächen. Unter Erwachsenen gibt es das kaum mehr – ausser in den Momenten der ersten Verliebtheit.

Besonders leicht wird ein einfühlsamer Junge zu Mutters Freund und Helfer. Immer wieder höre ich, wie Männer ihren Vater entwerten und kritisieren, obwohl sie ihn kaum kennen. Meist sind es die Worte der Mutter, die sie wiederholen. Diese Männer sind einst als «Bundesgenossen» oder als «Ersatzpartner» missbraucht worden. Leider hat diese nicht kindgemässe Rolle die Entwicklung ihrer Identität beeinträchtigt.

Ein missbrauchter Mensch ist immer unsicher, weil er sich selber nicht kennen lernen konnte. Statt seinen eigenen Weg zu gehen, hat er sich vor den Karren anderer spannen lassen. Und das wird ihm sein ganzes Leben immer wieder passieren – bis zum Moment, in dem er den Missbrauch voller Wut und Trauer erkennt und die undankbare Rolle hinschmeisst. Oft gelingt dieser Schritt nur mit therapeutischer Hilfe.

Auch Mädchen können als Trösterinnen, als Vertraute des Vaters oder der Mutter missbraucht werden. Oft zeigt sich die ungesunde Verstrickung darin, dass sich solche Jugendliche schlecht von den Eltern lösen können und dass Liebesbeziehungen zu Gleichaltrigen nicht recht gelingen wollen. Manchmal dauern die üblen Bindungen bis weit ins Erwachsenenalter hinein an, und manchmal stören sie auch eine Ehe.

Eine andere häufig auftretende Form von emotionalem Missbrauch besteht darin, dass Eltern ihre ungeliebten Schattenseiten – oder umgekehrt ihre Ideale – auf ein Kind projizieren und es so zum «Sündenbock» oder «Wunderkind» machen – was auch nicht dem wirklichen Wesen des Sohnes oder der Tochter entspricht.

Es gibt eine einfache Methode, als Mutter oder Vater gegen den Missbrauch des Kindes gefeit zu sein. Missbraucherinnen und Missbraucher sind blind: Geblendet von eigenen Bedürfnissen, machen sie die Opfer zu Instrumenten, zu Schachfiguren in ihrem Spiel. Je besser wir also unsere Kinder sehen, je klarer wir erkennen, wer sie wirklich sind, desto weniger können wir ihnen unsere Bedürfnisse überstülpen.

Die Lösung heisst: sich für den anderen Menschen interessieren, sich in seine Eigenart einfühlen – und ihn respektieren. Dieses Rezept gilt nicht nur gegenüber Kindern, es lässt sich genauso gegenüber Erwachsenen anwenden.