Erwachsene sollten sich besser überlegen, wen sie heiraten wollen, wünscht sich die zwölfjährige Bianca. «Dann müssten sie sich später auch nicht scheiden lassen.» Doch die Realität nimmt auf solche Kinderwünsche keine Rücksicht. Als Bianca ein Jahr alt war, trennten sich ihre Eltern – so wie rund die Hälfte aller Ehepaare in der Schweiz. Jedes Jahr erleben 15'000 Kinder die Scheidung ihrer Eltern.

Keine Frage: Die Auflösung der Familie ist für die meisten dieser Kinder sehr schmerzhaft. Aber müssen Scheidungskinder zwangsläufig zu unglücklichen jungen Männern und Frauen heranwachsen, wie es die Grand Old Lady der amerikanischen Scheidungsforschung, Judith Wallerstein, darstellt? Während 25 Jahren hat die Forscherin Tiefeninterviews mit Scheidungskindern geführt. Ihr wichtigstes Ergebnis: Eine Scheidung verursacht bei den betroffenen Kindern «schwere innere Blessuren», die unter Umständen «erst im Erwachsenenalter aufbrechen».

Diesem Fazit widersprechen zahlreiche Fachleute. Die Erziehungswissenschaftlerin Christine Meier Rey vom Marie-Meierhofer-Institut für das Kind kritisiert den allzu engen Blickwinkel der Wallerstein-Studie: «Was ist zum Beispiel, wenn Eltern den Kindern zuliebe zusammenbleiben, aber selber darunter leiden?» Auch das elterliche Befinden habe einen Einfluss auf die Kinder und müsse unbedingt berücksichtigt werden.

Der Zürcher Kinderarzt Remo Largo betont in seinem neuen Buch «Glückliche Scheidungskinder» sogar: «Für das Kind muss eine Trennung keine unvermeidliche Katastrophe sein. Im besten Fall wird das Kind in seinem Wohlbefinden überhaupt nicht beeinträchtigt.» Negativ sei nur, wenn die kindlichen Grundbedürfnisse nicht wie bisher befriedigt würden oder wenn das Kind unter der negativen Stimmung zwischen den Eltern leide.

Allerdings sind die meisten Eltern durch die Trennung oder Scheidung selber sehr belastet. Und in dieser kräftezehrenden Situation ist es tatsächlich kein Kinderspiel, die Bedürfnisse des Nachwuchses ausreichend zu berücksichtigen. Auch trauen sich die Kinder vielfach nicht, gegenüber den Eltern Gefühle wie Trauer, Wut oder Ohnmacht auszudrücken. Sie wollen das unsichere Familiensystem nicht noch durch ihre eigenen Sorgen und Nöte zusätzlich belasten.

Hilfreich können in dieser Situation spezielle Unterstützungsangebote für Kinder sein. Schon eine anonyme Anfrage an eine Onlineberatung oder ein Anruf beim Kinder-Nottelefon 147 können ein Kind entlasten: zum Beispiel von Schuldgefühlen, wie sie bei vielen Trennungs- und Scheidungskindern aufkommen. Auch die zwölfjährige Bianca litt darunter. «Als sich meine Eltern einmal im Wohnzimmer stritten, warf meine Mutter meinem Vater vor, er habe vor vielen Jahren gesagt: ‹Es wäre besser gewesen, kein Kind mehr zu bekommen.›» Selbst wenn keine solchen bösen Worte fallen, glauben Kinder oftmals, dass sich die Mutter und der Vater nur ihretwegen getrennt haben.

Ein wichtiges Angebot sind auch die Gesprächsgruppen für Scheidungskinder zwischen acht und zwölf Jahren. In Zürich bietet der Verein Trialog seit drei Jahren solche Gruppen an. Sie werden von zwei erfahrenen Psychologen – einer Frau und einem Mann – geleitet. Ziel der Gespräche: Die Kinder sollen lernen, ihre Position in der Familie, ihre Wünsche und Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Die elfjährige Lhamo etwa hat mit ihren Eltern nie viel über die Scheidung gesprochen. Anders in der Gruppe: «Hier kann man vieles sagen, weil es alle anderen auch tun.»

Therapie in Gruppen hilft
Auch Bianca hat in einer Gesprächsgruppe mitgemacht. Seither fühlt sie sich vor allem in der Beziehung zu ihrem Vater viel sicherer. «Ich sehe ihn so selten, dass ich gar nicht wusste, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.» Jetzt weiss sie: Sie darf sich so geben, wie es ihr zumute ist. Allerdings werden nur Kinder in die Gruppen des Vereins Trialog aufgenommen, bei denen die Trennung der Eltern schon mindestens ein halbes Jahr zurückliegt. Vorher ist das Schockerlebnis noch zu gross. «Die Kinder reagieren in dieser Phase mit Abschottung», sagt Gruppenleiter David Rudolf, «sie wollen sich mit der Scheidung ihrer Eltern nicht auseinander setzen – aus Angst, alles könne noch wirklicher werden.»

In der Gruppe würden sich die Kinder gegenseitig inspirieren, betont der Psychologe. Jene, die bereits mehrjährige Trennungs- oder Scheidungserfahrung hätten, würden mehr konkrete Lösungsmodelle einbringen, etwa: «Für mich ist es wichtig, dass der Vater mich nicht vor der Haustür ablädt, sondern noch mit hochkommt.» Kinder, bei denen alles erst vor kurzem passierte, seien dagegen emotional stärker involviert. «Dies wiederum kann jenen, die bereits vieles verdrängt haben, helfen, einen besseren Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden», sagt David Rudolf.

Die Zahl der Gesprächsgruppen für Kinder und Jugendliche ist noch klein, für Kinder unter acht Jahren fehlen altersgerechte Angebote sogar ganz. Der Verein Trialog arbeitet an einem entsprechenden Konzept und hofft, nächsten Sommer starten zu können. Bis dann ist die Spieltherapie, eine Einzeltherapie, für Vorschulkinder die einzige Möglichkeit, sich mit ihren Sorgen und Ängsten auseinander zu setzen.

Nach Schätzung von Fachleuten ist jedes zehnte Scheidungskind derart stark belastet, dass eine Einzeltherapie angebracht wäre. Und die Zahl dürfte weiter steigen: Der Kampf getrennter Eltern um das Sorge- und das Besuchsrecht wird heftiger denn je ausgetragen.

Das soziale Umfeld ist entscheidend
Dabei ist es für Kinder eminent wichtig, dass die Eltern gemeinsame Lösungen finden – etwa im Rahmen einer Familienmediation. Aber selbst dort werden viele Kinder nicht oder nur teilweise einbezogen, vor allem wenn sie noch klein sind. Das Marie-Meierhofer-Institut erarbeitet deshalb ein Projekt für sozialpädagogische Kinderanwaltschaft. Diese soll in den Turbulenzen einer Trennung oder Scheidung dafür sorgen, dass die Kinder nicht vergessen werden. Besonders dann nicht, wenn die Eltern in einem heftigen Konflikt stehen.

Auch sonst kann eine Kinderanwältin oder ein Kinderanwalt wichtige Anstösse geben. Manchmal reicht es schon, im sozialen Umfeld der Familie nach Unterstützung zu suchen. «Denn oft wissen Verwandte und Bekannte nicht, wie sie mit einer Trennung oder Scheidung umgehen sollen, und ziehen sich zurück», sagt die Projektleiterin Christine Meier Rey, «und zwar gerade dann, wenn die Kinder sie besonders nötig hätten.»