Unfassbar: Seit zehn Jahren setzt die Mutter Charlotte Ladefoged alle Hebel in Bewegung, um ihren Sohn Sebastian zu finden und ihn zu sich zu nehmen. Englische Behörden hatten den acht Monate alten Säugling zwangsweise fremdplatziert und gegen den Willen der Alleinerziehenden zur Adoption freigegeben. Begründung: Die ledige Mutter, eine Dänin, die heute in der Schweiz lebt, leide unter Schizophrenie. Das sei einem amtlichen Gutachten aus ihrem Heimatland zu entnehmen.

Unverständlich: Charlottes Gesuch um ein faires Verfahren wandert seit fünf Jahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, der letzten aller Rechtsinstanzen, von Tisch zu Tisch. Mal wird das korrekt eingereichte Dossier kommentarlos als unzulässig abgelehnt, mal bleibt es unauffindbar, dann taucht es unvermutet wieder auf und soll innert nützlicher Frist behandelt werden.

Unglaublich: Ist es denn die Möglichkeit, dass in einem Rechtsstaat Behörden und Gerichte einer heute 42-jährigen Mutter das Kind wegnehmen und ihr über all die Jahre jegliche Informationen über dessen Verbleib verweigern? Ist es denn die Möglichkeit, dass in unserer Gesellschaft irgendwo ein Elfjähriger heranwächst, der von der Existenz seiner leiblichen Mutter nichts weiss?

Psychiatrische Diagnose aus der Ferne
Es ist die Möglichkeit. Die Fülle von Akten und Dokumenten, die sich bei Charlotte Ladefoged seit der Schwangerschaft 1996 anhäufen und dem Europäischen Gerichtshof vorliegen, sprechen für die Glaubwürdigkeit des Unglaublichen. Die Zürcher Rechtsanwältin, die im Namen von Charlotte Ladefoged vor einem Jahr den Fall aufrollte und nochmals eine Beschwerde wegen «gravierender Menschenrechtsverletzung» einreichte, resümiert: «Wer die gesamte Aktenlage nicht kennt, denkt: Das kann doch nicht wahr sein.»

Zur Aktenlage: 1991, mit 26 Jahren, nahm die Biochemiestudentin Charlotte Ladefoged freiwillig bei einer öffentlichen Beratungsstelle in Kopenhagen psychologische Unterstützung in Anspruch. Die Frage nach der eigenen Identität wurde zum Lebensthema. Als sie neun Jahre alt war, hatten sich ihre Eltern scheiden lassen. Charlotte wurde von Heim zu Heim und von Pflegefamilie zu Pflegefamilie abgeschoben. Länger als acht Monate konnte sie nirgends bleiben. «Ich wuchs ohne soziale Wertvorstellungen und ohne Geborgenheit auf», sagt sie.

1993 wandte sie sich an die Sozialbehörden und beantragte einen üblichen Unterstützungsbeitrag für ihre Ausbildung. Unglaublich, aber wahr: Stattdessen bekam die engagierte, aber mittellose Studentin eine lebenslängliche Rente verordnet. Sie sei «unheilbar schizophren, paranoid und psychotisch» und werde ihr Studium nie in den Griff bekommen, geschweige denn je einer geregelten Arbeit nachgehen können.

Charlotte Ladefoged verstand die Welt nicht mehr, bis sie dem Ursprung dieser Verfügung auf den Grund kam: Während der regelmässigen psychologischen Begleitung hatten die Sozialbehörden 1992 ohne ihr Wissen bei einem amtlichen Psychiater ein Gutachten in Auftrag gegeben, das sie als schizophren aburteilte. Nur: Der Mann hatte mit der «Patientin» nie geredet. Sie wehrte sich gegen diese Diagnose, und auch ihre langjährige Hausärztin protestierte gegen das Gutachten: Charlotte Ladefoged sei «zu jeder Zeit» psychisch absolut gesund gewesen. Er habe nie das geringste Anzeichen einer möglichen psychischen Erkrankung feststellen können. Aufgrund der unklaren behördlichen Verfahrensweise könne er nicht ausschliessen, «dass es sich um eine Schikane handle». Nichts geschah.

Seither läuft Charlotte Ladefoged gegen Behörden und Ämter Sturm, das Stigma «Schizophrenie» haftet ihr unwiderruflich an, «vermutlich bis an mein Lebensende», wie sie meint.

Flucht vor den dänischen Behörden
So auch 1996, als Charlotte Ladefoged schwanger wurde. Der Kindsvater, ein Deutscher, weigerte sich, die Vaterschaft anzuerkennen. Die werdende Mutter stand mutterseelenallein da, ohne Geld und ohne Wohnung. Sie wandte sich an das deutsche Sozialamt mit dem Wunsch, das Kind in Deutschland zur Welt zu bringen, zumal der Vater Deutscher sei. Aus Angst vor den Behörden wollte sie nicht nach Dänemark zurück. Die Angst war berechtigt. Denn nun setzte sich das Räderwerk der Behördenmaschinerie erneut in Gang: Das dänische Sozialamt liess Deutschland wissen, Charlotte Ladefoged sei schizophren. Es sei geplant, das Kind der Mutter gleich nach der Geburt wegzunehmen und zur Adoption freizugeben.

Charlotte Ladefoged wurde nach Dänemark zurückgeschafft. Hier ging sie gerichtlich gegen die Diagnose Schizophrenie vor. Mit Erfolg: Das Gerichtsurteil hielt fest, das Thema Schizophrenie sei ein für allemal erledigt, Charlotte Ladefoged sei gesund. Die Sozialbehörden hielten jedoch an ihrer eigenen Version fest.

Um den Fängen der dänischen Behörden zu entkommen, flüchtete Charlotte Ladefoged am 30. November 1996 hochschwanger mit der Fähre nach England. Gleich bei der Ankunft in der Hafenstadt Ramsgate in der Grafschaft Kent suchte sie ein Krankenhaus auf, wo sie am 22. Dezember einen Sohn zur Welt brachte. Noch vor dessen Geburt hatte die dänische Botschaft unaufgefordert und einmal mehr ohne Wissen der Mutter den englischen Behörden vertrauliche Dokumente über die gesundheitliche Verfassung der Mutter zugespielt: Charlotte Ladefoged sei schizophren. Das anders lautende Gerichtsurteil wurde unterschlagen.

Der fragwürdige Umgang mit dem Amtsgeheimnis hatte Folgen: Am 1. September 1997 trennten die englischen Sozialbehörden Sebastian von seiner Mutter, obwohl Arztberichte festhielten, er sei ein aufgewecktes, gesundes Kind und entwickle sich bei seiner Mutter prächtig. So kam das Kind zu Pflegeeltern. Später wurde Charlotte Ladefoged das Sorgerecht entzogen. Damit verlor sie die elterliche Entscheidungs- und Handlungsbefugnis.

Das aktuelle Gutachten eines namhaften Psychiaters aus London wurde nicht beachtet. Die Mutter sei gesund und habe bewiesen, dass sie sich selbständig um ihr Kind kümmern könne. Sein Schlusswort: «Ich sehe absolut keinen Grund, das Kind von der Mutter zu trennen, und bitte das Gericht, diese Fachexpertise zu berücksichtigen.» Wieder geschah nichts.

Mittlerweile war die Mutter nach Strassburg gezogen, um dort ihren Kampf wiederaufzunehmen. Im Januar 1999 kam dann der Tiefschlag: Das englische Gericht habe ihren Sohn zur Adoption freigegeben. Wie Telefonnotizen belegen, rief sie aufgelöst mehrmals ihre Anwältin in England an, sie solle unverzüglich appellieren. Später stellte sich heraus, dass die Rechtsvertreterin den Schritt an den obersten Gerichtshof versäumt hatte. Als die verzweifelte Mutter selber appellieren wollte, wurde ihr die Befugnis ohne ersichtlichen Grund verweigert.

Charlotte Ladefoged liess sich nicht unterkriegen. Fristgerecht reichte sie im Juni 2002 beim Europäischen Gerichtshof in Strassburg auf dem vorgeschriebenen Formular die vollständige Beschwerde ein und dokumentierte ihren Fall minutiös. Der Gerichtshof erklärte die Beschwerde unbegründet als unzulässig. Aus den Unterlagen sei keine Menschenrechtsverletzung ersichtlich. Das Urteil sei endgültig.

Dossiers verschwinden plötzlich
Vor viereinhalb Jahren kam Charlotte Ladefoged in die Schweiz. Von hier wollte sie ihren Kampf für Gerechtigkeit fortsetzen. Eine Zürcher Anwältin nahm sich des Falles an und legte im September 2006 erneut Beschwerde ein mit der Feststellung, es handle sich um eine «gravierende Menschenrechtsverletzung», eine materielle Beurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sei «dringend».

Nun nahmen die Verfahrenswege geradezu kafkaeske Züge an. Als die Eingangsbestätigung der Beschwerdeschrift ausblieb, erkundigte sich die Anwältin telefonisch nach deren Verbleib. Das Dossier sei nicht eingegangen, liess man sie wissen, worauf sie alle Unterlagen nochmals einreichte. Wenig später lehnte der Gerichtshof die Beschwerde abermals als unzulässig ab und erklärte, es würden in dieser Sache weder Briefe beantwortet noch Telefone entgegengenommen.

Nach eineinhalb Monaten bekam die Anwältin unerwartet ein Schreiben aus Strassburg. Diesmal wurde der Empfang ihres ersten - angeblich verschwundenen - Dossiers bestätigt und unter einer neuen Referenznummer registriert. Der Gerichtshof werde sich schnellstmöglich mit der Angelegenheit befassen.

Hoffnung auf ein Revisionsverfahren
Als sich Charlotte Ladefoged keine Anwaltskosten mehr leisten konnte, nahm sie das Ruder selber in die Hand. Sie bekam den Tipp, die Angelegenheit Dick Marty, Tessiner Ständerat und Berichterstatter des Europarats, vorzulegen. Sein Sekretariat schickte die Unterlagen «mit den besten Wünschen und freundlichen Grüssen» jedoch zurück. Weil ihre Briefe nach Strassburg längst unbeantwortet blieben, schaltete sie einen Bekannten mit Akademikertitel aus Zürich ein, der sich Mitte 2007 nach dem Stand der Dinge erkundigte. Die Antwort liess nicht lange auf sich warten: Der Fall werde voraussichtlich «noch im Laufe dieses Jahres» behandelt. Das Jahresende steht vor der Tür.

Charlotte Ladefoged will nicht bemitleidet werden. Sie will aufdecken, dass beim Europäischen Gerichtshof jeder Bürger in diese Mühlen geraten kann: «Ich glaube, dass ich kein Einzelfall bin.» Zum Glück habe sie die Möglichkeit und Kraft, unbeirrt weiterzukämpfen, «bis ich meinen Sohn zurückhabe». Das Schicksal eines Heim- oder Pflegekindes will sie ihm ersparen. Gleichzeitig will sie den Wahnsinn des Möglichen in die Welt hinausschreien. Ihre ehemalige Zürcher Anwältin rügt die englische Berufskollegin, die gegen die Adoptionsfreigabe nicht appellierte. Nicht nachvollziehbar sei für sie auch, dass der Gerichtshof das verbriefte Menschenrecht auf einen fairen Prozess nie beurteilte. Einen Hoffnungsschimmer sieht sie in einem Revisionsverfahren in England.

«Ohne Hoffnung», sagt die Mutter, «könnte ich nicht mehr kämpfen - und nicht mehr leben.» Hoffnung, trotz allem. Das scheint unglaublich. Fast so unglaublich wie das Schicksal von Charlotte Ladefoged, die seit zehn Jahren um ihr Kind kämpfen muss. «Dass das Unglaubliche möglich ist, macht es so entsetzlich.»