Albert Einstein hat angeblich erst mit drei Jahren zu sprechen begonnen. Der Mann, der es mit seiner Relativitätstheorie und als Nobelpreisträger zu Weltruhm brachte, war in seiner frühen Kindheit ein «Late Talker», ein Spätsprecher. Schon im Alter von fünf Jahren aber soll er erstmals naturwissenschaftlichen Privatunterricht genossen haben, und später deutete bei ihm nichts auf etwaige Sprachschwierigkeiten hin. Mit anderen Worten: Einstein war nicht nur Late Talker, sondern auch «Late Bloomer», ein «Aufholer» – ein Kind, das seine sprachlichen Defizite spontan wettmachte und innert kurzer Zeit mit Gleichaltrigen gleichzog.

Doch nicht alle sprachlichen Spätzünder holen auf. In der Schweiz haben 10 bis 15 Prozent aller Kleinkinder eine verzögerte Sprachentwicklung. Bei manchen bleiben die Defizite bis ins Jugend- oder gar Erwachsenenalter bestehen.

Der Frage, wie sich Spätsprecher entwickeln, widmet sich eine Langzeit-Untersuchung am Kinderspital Zürich, von der erste Ergebnisse vorliegen. Diese zeigen, dass nur ein Drittel der Kinder aus der Late-Talker-Gruppe aufgeholt hat. Bei den übrigen ist auch mit drei Jahren die Sprachentwicklung entweder «auffällig», oder es liegt eine Spracherwerbsstörung vor. «Wir vermuten, dass die Phase, in der bei ‹Aufholern› sprachlich sehr viel passiert, zwischen zwei und zweieinhalb Jahren ist», sagt Studienleiterin Hilda Geissmann. Dies sei auch die Zeit, in der eine Unterstützung in Form von Elternanleitung viel nütze. «Je eher einem Late Talker geholfen wird, desto grösser sind die Erfolgschancen.» Vor allem die Entwicklung des Wortschatzes ist laut Geissmann wichtig: Es braucht eine «kritische Masse» von Wörtern, damit ein Kind überhaupt in die Grammatik einsteigt, also den Plural von Nomen (Blume – Blumen), die Konjugation von Verben (sprechen – du sprichst) oder Haupt- und Nebensätze bilden lernt.

Plötzlicher Entwicklungssprung

Wann ist ein Kind überhaupt ein Late Talker? «Wenn es mit 24 Monaten weniger als 50 Wörter spricht und keine Zweiwortsätze bildet», erklärt Logopädin Hilda Geissmann. Andere Hinweise sind die Anzahl Vokale und Konsonanten, die ein Kind beherrscht – oder eben nicht beherrscht.

Zwei Beispiele: Beim Spielen mit Holzfiguren zeigt sich die zweijährige Sabrina zwar interessiert, äussert aber kaum einen Laut, selbst wenn sie dazu aufgefordert wird. Der gleichaltrige Leon hat ein gutes Wortverständnis, wie sich beim Anschauen eines Bilderbuchs zeigt, doch er ist kaum imstande, selbst Wörter zu produzieren. Er sagt lediglich «Do, do», als er mit dem Finger auf das Feuerwehrauto tippt. In den folgenden elf Monaten macht Leon einen Entwicklungssprung und zeigt bei der Abklärung keine sprachlichen Auffälligkeiten mehr. Sabrina hat ihren Rückstand mit drei Jahren nicht aufgeholt. Sie will kommunizieren, doch sie tut dies meist nonverbal. Das Verstehen von Wörtern und Sätzen bereitet ihr grosse Schwierigkeiten.

«Unser Ziel ist, Vorhersagen über die Sprachentwicklung bei zweijährigen Late Talkern machen zu können», sagt Hilda Geissmann. «Das heisst, wir wollen möglichst zuverlässig voraussagen, ob ein Spätsprecher seinen Rückstand spontan ausgleichen wird oder ob das Kind spezielle Unterstützung braucht.» Die Zürcher Studie umfasst 52 spät sprechende Kinder und eine Referenzgruppe von 30 Kindern, deren Sprachentwicklung normal verläuft.

An die Eltern: Weniger reden ist mehr

Einem spät sprechenden Kind zu «helfen» bedeutet nicht automatisch, es gleich in eine Therapie zu schicken. Dies betont die Psychologin und Logopädin Susanna Züllig, die an der Primarschule Töss und in der Teilintegrationssonderklasse des Zentrums für Gehör und Sprache arbeitet. «Eine Elternanleitung ist die erste sinnvolle Intervention zwischen Zuwarten und einer Therapie», sagt sie. Denn oft seien Mütter und Väter sehr besorgt, gleichzeitig aber willens, ihr eigenes Sprachverhalten dem Kind gegenüber zu verändern.

Bei ihrer Arbeit stellt Züllig fest, dass Eltern oft zu komplex mit ihren Kindern sprechen: «Sie müssen lernen, ihre Sprachmuster denjenigen ihres Kindes anzupassen. Und das heisst in den meisten Fällen: weniger reden und mehr zuhören, also viel stiller werden.» Das üben die Mütter und Väter zum Beispiel beim Spielen mit ihrem Kind, in alltäglichen Situationen oder bei Sprachspielen – Rhythmus, Reime, Fingerspiele. Ein weiteres Ziel legt den Fokus darauf, wie die Eltern gemeinsam mit dem Kind ein Bilderbuch anschauen. Hier sei vor allem wichtig, dem Kind die Führung zu überlassen und es nicht mit Fragen unter Druck zu setzen. Bei den Fragen gelten laut Susanna Züllig folgende Faustregeln:

  • Auf vier Bemerkungen des Kindes höchstens eine Frage stellen.

  • Testfragen sind Unterhaltungsblocker.

  • Nur fragen, wenn das Kind die Antwort geben kann.

«Wissen über Sprache und ein bewusstes Anwenden von Kommunikationsstrategien geben Eltern ein anderes Verständnis für ihr Kind», sagt Susanna Züllig. Zudem hätten die Eltern so weniger Schuldgefühle, da sie selber aktiv zur Sprachentwicklung ihres Kindes beitragen. Wie erfolgreich dieser Ansatz ist, zeigt eine Untersuchung des Kinderpsychiaters Waldemar von Suchodoletz aus dem Jahr 2007. Demnach sind bei spät sprechenden Kleinkindern zu Beginn des dritten Lebensjahres Einzeltherapie und Elternanleitung gleichwertig.

Vom Geräusch zum Wort

Es liegt in der menschlichen Natur, kommunizieren zu wollen. Von allen Umgebungsgeräuschen interessieren Babys von Geburt an besonders Sprachlaute. Schnell lernen sie Sprachmelodie und Betonungsrhythmen. In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres können sie die Laute ihrer Muttersprache erkennen – sie hören diesen länger zu als Lauten anderer Sprachen.

Viele Kinder beginnen mit zirka einem Jahr zu sprechen. Einige Monate lang bleibt es bei wenigen Wörtern. Manche Kinder erweitern ihren Wortschatz mit etwa 18 Monaten und bilden erste Zweiwortsätze («Büsi schlafe», «Mami schaffe»). Die Entwicklung des Wortschatzes und diejenige der Grammatik hängen eng zusammen. Wer früh und schnell Wörter lernt, tut dasselbe mit der Grammatik. Man nimmt an, dass das optimale Zeitfenster für das Erlernen von Grammatik zwischen eineinhalb und vier Jahren liegt («sensible Phase»). Aber: Der Altersunterschied zwischen Kindern mit gleichem Sprachstand kann bis zu ein Jahr betragen.