Werner Renz ist ausgewandert. Weit weg von der Schweiz, wo die Familie lebt, von der er sich verraten fühlt. An der Küste von Ecuador versucht der junge Informatiker, sich eine neue Existenz aufzubauen – eine, die nicht auf einer Lüge fusst.

Drei Tage alt war er, als ihn seine Adoptiveltern vom Spital abholten und heimbrachten in ihr Haus in Magglingen bei Biel. Erst nach 18 Jahren sagten sie ihm, dass sie nicht seine leiblichen Eltern waren. An seinem Geburtstag liessen sie die Bombe platzen. Der Jugendliche erlitt einen Zusammenbruch. Hatte die Mutter nicht immer wieder gesagt, er habe die blauen Augen des Vaters? Warum hatten auch Onkel, Tanten und Cousins ihn im Glauben gelassen, er habe nur diese Eltern?

«Das Vertrauensverhältnis war zerstört»

Heute weiss der 34-Jährige, dass es wohl Verlustängste waren, die seine Adoptiveltern so lange schweigen liessen. Damals war er einfach tief verletzt. Werner Renz brach den Kontakt ab, wollte mit seiner Adoptivfamilie nichts mehr zu tun haben. «Das Vertrauensverhältnis war zerstört, ich glaubte meinen Verwandten kein Wort mehr.» Renz machte sich allein auf die Suche nach seinen leiblichen Eltern. Er sprach mit dem Pfarrer, der seine Adoption in die Wege geleitet hatte, und erfuhr den Namen seines mutmasslichen Vaters, eines türkischen Gastarbeiters. Eine Reise in die Türkei brachte Renz nicht weiter, der Aufruf eines türkischen Fernsehsenders verlief im Sand. Die Suche nach der Mutter schien zunächst einfacher. Die Schweizerische Fachstelle für Adoption ermittelte ihren Namen: Monika Baumann. Sie war tot – «geboren am 19. September 1960, verstorben am 5. Juli 1995» stand im Brief an Renz. Er besuchte das Grab seiner Mutter auf dem Waldfriedhof in Schaffhausen und fühlte sich noch einsamer.

«Warum hat sie mich weggegeben?»

 

Werner Renz wusste nun, dass er sie hätte kennenlernen können, wenn er früh genug gewusst hätte, dass es sie gibt. Als sie starb, war er 14. Unendlich traurig sei er gewesen, als er das realisiert habe, sagt Renz, wütend auch. «So gern wüsste ich, wer sie war, ob es Gemeinsamkeiten gegeben hatte – und vor allem, warum sie mich weggegeben hat.»

 

Heute ist Renz vollständig auf sich allein gestellt. Seine Adoptiveltern sind inzwischen gestorben, und Geschwister wurden nicht gefunden. «Wenn ich könnte», sagt Renz, «würde ich Adoptionen verbieten.»

 

«Die Kenntnis der Abstammung ist ein Menschenrecht», sagt die deutsche Familientherapeutin und Autorin Irmela Wiemann. Sie begleitet seit über 30 Jahren Adoptivkinder, Adoptiv- und Herkunftseltern. «Je früher ein Kind klare Informationen erhält, desto besser kann es seine Lebenssituation annehmen.» Man wisse heute, wie wichtig es vielen jungen Menschen sei, ihre leiblichen Eltern persönlich kennenzulernen. Adoptierte sprächen nach der Begegnung von «Boden unter den Füssen», von «Linderung des Schmerzes». Oder sie sagen: «Ich weiss nun endlich, wer ich bin.»

Es gibt da noch eine «Bauchmama»

 

Franziska Frohofer, Leiterin der Schweizerischen Fachstelle für Adoption, macht ähnliche Erfahrungen. Sie nimmt darum künftigen Adoptiveltern das Versprechen ab, dem Kind von Anfang an zu erzählen, dass es noch eine «Bauchmama» gibt. «Je früher Kinder ihre wahre Geschichte kennen, desto besser gelingt es ihnen, diese anzunehmen und zu verarbeiten», sagt auch sie. Die britische Forscherin Elsbeth Neil von der Universität East Anglia bestätigte das kürzlich in einer Studie: Adoptivkindern, in deren Familien Offenheit gegenüber den Herkunftseltern herrschte oder die ihre leiblichen Familien persönlich kannten, ging es psychisch besser, und sie hatten mehr Selbstvertrauen.

«Adoptionen sollte man verbieten.»

Werner Renz, Adoptivkind

 

Trotz diesen Erkenntnissen seien sogenannt offene Adoptionen, bei denen Kinder Kontakt zu den leiblichen Eltern haben, in der Schweiz bis heute die Ausnahme, bedauert Frohofer. Das liege einerseits daran, dass die heutige Gesetzeslage die offene Adoption nicht vorsehe und die Kinder erst mit der Volljährigkeit nach ihren Wurzeln suchen können. Anderseits sei diese Form der Adoption noch immer mit grossen Ängsten verbunden. Die aktuelle Revision des Adoptionsrechts geht für Franziska Frohofer in die richtige Richtung, aber zu wenig weit.

 

Auch jüngere Kinder hätten das Recht, mehr über ihre Herkunft zu erfahren, findet die Fachfrau, die selber eine Pflegetochter hat. Sie würde sich zudem wünschen, dass die Suche nach allfälligen Geschwistern in der neuen Gesetzgebung explizit erlaubt wäre. Heute bewegen sich Fachstellen da im rechtlichen Graubereich. In Deutschland dürfen Adoptierte auch ohne Zustimmung der Adoptiveltern mit 16 die Personalien der Erzeuger verlangen; mit ihrer Zustimmung sogar schon früher. Laut Therapeutin Wiemann zeigt die Erfahrung, dass schon kleine Kinder neugierig auf ihre leiblichen Eltern sind. «Ich kenne sehr viele adoptierte Kinder, die ihre Mütter, Väter oder ganzen leiblichen Familien schon im Kindesalter kennengelernt haben», sagt sie. «Ihre Bindung und ihr Vertrauen in die Adoptiveltern wurden dadurch vertieft und nicht geschwächt, wie oft befürchtet wird.»

 

Wie viel es bedeuten kann, die Herkunftsfamilie zu kennen, hat Jeannette Kohler* erfahren. Sie war bereits 40, als sie es wagte, sich auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern zu machen. Wie Werner Renz war auch sie noch ein Baby, als sie von einem Paar in einem Bündner Bergdorf adoptiert wurde. Der Gemeindeschreiber hatte dem Kind kurzerhand eine neue Identitätskarte mit neuem Namen und neuem Heimatort ausgestellt. Als Jeannette in der vierten Klasse war, klärten ihre Adoptiveltern sie auf: «Du bist im Bauch einer anderen Frau herangewachsen, und du hast einen Bruder, der an einem anderen Ort wohnt», sagten sie. Jeannette hatte immer wieder nach ihren Geburtsumständen gefragt, und ihre Adoptiveltern wollten nicht, dass ihre Tochter im Dorf erfährt, dass es bei ihr nicht so war wie bei den anderen.

Sie glaubte, überall Verwandte zu sehen

 

«Es war schlimm», sagt Jeannette Kohler, als sie sich an diesen Tag zurückerinnert, «meine ganze kleine Welt brach in sich zusammen.» Bis heute muss sie weinen, wenn sie davon erzählt. Es sei ihr nicht klar, ob sie es schon früher hätte wissen wollen, sagt Kohler, «aber der Schock wäre sicher kleiner gewesen». Die Adoptiveltern taten, was sie konnten, um das Mädchen zu trösten: «Du bist unser absolutes Wunschkind», sagten sie, und: «Wir lieben dich über alles.»

«Es war schlimm. Meine ganze kleine Welt brach zusammen.»

Jeanette Kohler*, Adoptivkind

 

«Ich bin bei den besten Eltern aufgewachsen, die man sich wünschen kann», sagt Kohler. Aber die Fragen nach ihrer Herkunft liessen sich nicht verdrängen. In der Pubertät begann sie, überall Verwandte zu sehen: im Ausgang, wenn ihr ein junger Mann gefiel, im Zug, wenn ihr ein älterer Mann glich, im Unterland, wenn sie einkaufen ging. «Könnte er mein Bruder sein? Ist das vielleicht mein Vater, meine Mutter?» Als sie selber Mutter wurde, wurden die Fragen drängender. Hatte ihre Tochter die Locken vom Grosi? Den Schalk vom Grossvater? Gab es in ihrer Familie Erbkrankheiten? Trotzdem wagte es Jeannette Kohler lange Zeit nicht, ihre leiblichen Eltern zu suchen. Ihr Adoptivvater war früh gestorben, aber mit der Adoptivmutter hatte sie auch als Erwachsene ein enges Verhältnis, und auf gar keinen Fall wollte sie ihr mit den Nachforschungen das Gefühl geben, sie hätte nicht genügt. Bis heute wissen nicht alle ihre Verwandten, dass sie «gesucht hat». Darum möchte sie hier auch nicht unter ihrem richtigen Namen erscheinen.

Der wiedergefundene Halbbruder

 

Ihre leibliche Mutter fand Kohler mit der Hilfe der Adoptionsfachstelle. Das Treffen verlief enttäuschend, weitere Kontakte gab es nicht. Dennoch sagt Jeannette Kohler: «Es war das Beste, was mir passieren konnte. Jetzt habe ich ein Bild – mehr brauchte ich nicht.» Sie erfuhr auch, wie ihr Halbbruder heisst. «Als mich die Adoptionsfachstelle später anrief und mir sagte, dass sie ihn gefunden hätten, zog es mir fast den Boden unter den Füssen weg», erinnert sich die 63-Jährige. Nie hätte sie gedacht, dass sie das so umhauen würde. «Er hat drei Kinder, wie ich, und lustigerweise kaufte er in unserer Nähe eine Ferienwohnung. Das ist doch verrückt!»

 

Heute sind die beiden Freunde, und Jeannette Kohler fehlt nur noch ein Puzzleteil in ihrer Lebensgeschichte: der Vater. Aus den Akten, die sie vor drei Jahren von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ihres Geburtsorts erhielt, weiss sie inzwischen, dass er wohl vor zehn Jahren gestorben ist. Wenn ihre leibliche Mutter ihr die Frage nach der Vaterschaft beantwortet hätte, wäre noch Zeit gewesen, ihn zu finden. «Das werde ich ihr nie verzeihen», sagt sie. «Mütter, die ihren Kindern die Vaterschaft verschweigen, tun ihnen viel Leid an.»

 

Werner Renz würde ihr beipflichten. Er stellte die Suche nach seinen Eltern ein. «Ich musste aufhören», sagt er, «jeder Misserfolg machte meine Verzweiflung nur noch grösser.» Jeannette Kohler will das letzte Puzzleteil ihrer Biografie finden: «Ein Foto des Vaters wenigstens.» Und sie will Werner Renz kennenlernen, der als junger Mann nach Ecuador auswanderte, um dem Schmerz zu entfliehen, den sie nur zu gut kennt. «Nur entwurzelte Menschen wie wir können wirklich nachvollziehen, was es heisst, mit dieser Lücke zu leben.»

Adoption: Mehr Rechte für leibliche Eltern

Die laufende Revision des Adoptionsrechts soll die Voraussetzungen für Adoptionen flexibilisieren und das Adoptionsgeheimnis lockern. Die leiblichen Eltern sollen Auskunft erhalten über die Identität des volljährigen Kindes, falls dieses zustimmt. Zudem sollen sie unabhängig vom Alter des Kindes sogenannt nichtidentifizierende Informationen über das Adoptionsverhältnis erhalten, sofern dadurch die Interessen des Kindes nicht verletzt werden.

Die gleiche Möglichkeit soll umgekehrt auch dem minderjährigen Kind eingeräumt werden. Schon heute hat ein adoptiertes Kind ein Recht auf Kenntnis seiner Abstammung, wenn es volljährig ist – ohne dass die leiblichen Eltern zustimmen müssen. Die Gesetzesrevision wurde Ende 2013 mit der Vernehmlassung angestossen. Im November 2014 verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft zuhanden des Parlaments. Mitte Januar nahm das Gesetz im Ständerat eine weitere Hürde: Die Rechtskommission stimmte mit sieben zu drei Stimmen bei einer Enthaltung zu.