Conny Blume bricht plötzlich der Boden unter den Füssen weg. Sie hatte den Mann, der in der Familienaufstellung ihren Stiefvater darstellen soll, möglichst weit weg in der Ecke platziert. Dann stellte sie sich hinter ihn und sagte vor, was er sagen sollte: «Ich heisse Markus. Ich habe meine Stieftochter missbraucht.» Conny bleibt buchstäblich die Luft weg; sie kann nur noch heulen. «Ich hatte gedacht, dass ich alles verarbeitet habe. Aber das war nicht so», erklärt die 24-jährige Frau rückblickend.

Conny Blume hatte Glück. Ihre Selbsterfahrungsgruppe wurde von einem Psychotherapeuten geleitet, der ihren Sturz in den emotionalen Abgrund auffangen konnte. Doch häufig ist das nicht der Fall. Denn durchführen kann eine solche Seelenbehandlung, wer will.

Dienste «nur gegen Barzahlung»
Das Familienstellen nach dem deutschen Psychoanalytiker Bert Hellinger gehört zu den beliebtesten Angeboten auf dem boomenden Psychomarkt. Die Auswahl ist riesig: Wer in der Internet-Suchmaschine www.sear.ch die Stichwörter «Seele» und «heilen» eingibt, findet allein für die Schweiz mehr als 30000 Einträge. Vom schamanischen Heilen übers Rebirthing (in Trance die eigene Geburt nochmals erleben), Rückführungen (in frühere Leben), mediale Beratung bis zur Alchimie und Isisanrufung ist hier alles zu finden. Ein Dr. Ing. ETH empfiehlt sich als Seelentherapeut, der Inhaber einer «Praxis für natürliches Heilen» bezeichnet sich selber als «Meister des Lichts» und verspricht: «Durch meine Liebe habe ich die Kraft, die Menschen vom Bösen zu befreien.» Allerdings «nur gegen Barzahlung».

Wie viele selbst ernannte «Seelendoktoren» in der Schweiz tätig sind, ist kaum zu eruieren. Viele sind nebenberuflich und völlig unkontrolliert aktiv. Esther Lenzin, Psychotherapeutin und Beraterin bei Infosekta, spricht von einem «Sumpf». Auch Daniel Habegger, Generalsekretär der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP), kann die Zahl nur schätzen: «Auf eine seriöse Fachkraft kommen mindestens fünf selbst ernannte ‹Heiler›.» Das wären dann 15000 bis 20000, denn in der Schweiz gibt es rund 3500 qualifizierte, nichtärztliche Psychotherapeuten.

Trotz diesem grossen Angebot werden die psychologischen Institute an den Universitäten weiterhin von Studierenden überschwemmt. Offenbar werden die Marktchancen nach wie vor als gut eingeschätzt. Kein Wunder, wollen auch immer mehr Scharlatane vom florierenden Geschäft mit dem Seelenheil profitieren.

Im Trend liegen vor allem «Crash-Kurse», die den Teilnehmenden psychische Problembehebung in wenigen Tagen versprechen. Die esoterische Psychosekte Avatar etwa, gegründet von einem langjährigen Scientology-Vorstandsmitglied, bietet ein neuntägiges Seminar für 2320 Euro an, exklusive Reise- und Übernachtungskosten. «Solche Kurse entsprechen der gesellschaftlichen Tendenz, möglichst alle Probleme in möglichst kurzer Zeit lösen zu wollen», sagt Esther Lenzin.

Vor der ganzen Gruppe blossgestellt
Pseudotherapeutische Gruppenkurse arbeiten oft mit sektiererischen Methoden. Zum Beispiel werden die Teilnehmenden mit ihren Problemen vor der ganzen Gruppe blossgestellt und beschuldigt, um anschliessend für ihren Veränderungswunsch gerühmt und von der ganzen Gruppe beklatscht zu werden. So entsteht ein euphorisches Wir-Gefühl: Gemeinsam können wir alles! Um dieses Gefühl wieder und wieder zu erfahren, besuchen die Teilnehmer Folgekurs um Folgekurs.

Ein wirksamer Schutz vor Pseudotherapien existiert kaum. Diesen Frühling kommt immerhin das erste schweizerische Psychologiegesetz in die Vernehmlassung. Danach soll der Titel «Psychologe» oder «Psychotherapeutin» einheitlich geregelt werden. Die Berufszulassung zur Psychotherapie ist zwar in den meisten Kantonen gesetzlich definiert, aber die Kontrolle ist mangelhaft: Nur selten werden Pseudotherapeuten belangt, selbst wenn sie ihre Angebote mit völlig unrealistischen Versprechungen anpreisen.

«Im neuen Gesetz geht es nicht darum, die Praxis von Geistheilern oder spirituellen Lebensberatern zu verbieten», sagt FSP-Vertreter Daniel Habegger. «Aber es bringt eine klare Deklaration, damit man sich im ‹Psychodschungel› besser orientieren kann.»