Mariella muss nicht lange überlegen: «Pippi und dann die ‹Kinder aus Bullerbü›.» Die Kleine ist sieben Jahre alt und kennt, wie sie versichert, schon eine ganze Menge Bücher, Astrid Lindgrens Werke aber stehen ganz oben auf ihrer Liste. Mariella ist mit ihrer Vorliebe nicht allein: Die schwedische Autorin ist auch mehr als 50 Jahre nach Erscheinen des Buchs «Pippi Langstrumpf» beliebt bei Kindern und auch vielen Erwachsenen, bei denen der Zauber der Geschichten aus der Villa Kunterbunt nachwirkt. Ihre 70 Bücher werden weltweit millionenfach verkauft.

Augenfällig ist die Begeisterung für die «Schwedin des Jahrhunderts», zu der sie von ihren Landsleuten 1999 gewählt wurde, vor allem in diesem Jahr - Astrid Lindgren wäre am 14. November 100 Jahre alt geworden. Zahlreiche Artikel und ganze Publikationen widmen sich der einstigen Sekretärin und ihrem umfangreichen Werk, das von Autorenkollegen sowie Literaturwissenschaftlern gleichermassen anerkennend gewürdigt wird: Lindgren gilt als die Ikone des Kinderbuchs.

«Phantasien einer Geisteskranken»
Die Grundlage von Astrid Lindgrens Schaffen ist «die unverbrüchliche Loyalität dem Kind gegenüber, verbunden mit Themen, die Kinder interessieren, und perfektem Handwerk», schreibt Christine Holliger, Direktorin des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM), in der Zeitschrift «du». In «Pippi Langstrumpf» gestehe die Autorin den Kindern Allmachtsphantasien und Wunscherfüllungen zu und komme dem Bedürfnis nach Spiel, Spass und Unterhaltung entgegen. Und: «Sie ist mit den Kindern auf Augenhöhe.»
Etwas mehr Mühe bekundeten Experten mit Astrid Lindgren, als sie 1945 «Pippi Langstrumpf» vorlegte. Ein Kinderbuch hatte damals vor allem stark pädagogisch geprägt zu sein. Selbstredend, dass die Autorin mit ihren Geschichten bei Kritikern aneckte. In der grossen schwedischen Zeitung «Svenska Dagbladet» sprach man damals gar von «Phantasien einer Geisteskranken».

Starke Figuren, starke Bücher
Doch «Pippi Langstrumpf» setzte sich durch. Heute sind sich Experten einig: Ein Kinderbuch soll nicht mehr didaktisch sein, sondern Freiräume für Phantasien lassen, spannend und nicht aus der Erwachsenenperspektive geschrieben sein. Mit ihren starken Figuren wie Pippi, Michel aus Lönneberga oder der Räubertochter Ronja gab Lindgren den entscheidenden Impuls für einen Aufbruch: In der Kinderliteratur trat der pädagogische Aspekt in den Hintergrund. Zugleich verhalf die Schwedin der Sparte zu höherem Ansehen und wurde dafür als erste Kinderbuchautorin 1978 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Verbessert hat sich in den letzten Jahren nicht nur der Status der Kinderliteratur, auch die Zahl der Kinderbücher stieg markant an - das Angebot ist schier unüberblickbar. Das trifft zwar auch für die Erwachsenenliteratur zu, doch dort sind die Käufer in den meisten Fällen auch die Konsumenten. Anders bei Kinderbüchern: Sie werden meist nicht vom Zielpublikum ausgesucht, sondern von Eltern oder Lehrpersonen. Bloss: nach welchen Kriterien? Wie soll man als Erwachsener zum Beispiel beurteilen, ob das Buch in der kindlichen Perspektive geschrieben ist und die Phantasie anregt?

  • Möglichkeit Nummer eins: Man greift auf Altbewährtes zurück, wie die Klassiker von Astrid Lindgren.
  • Zweite Möglichkeit: Man informiert sich anhand von Rezensionen in den Medien, Empfehlungen oder Auszeichnungen. So wird zum Beispiel jedes Jahr der Deutsche Jugendliteraturpreis vergeben, in der Sparte Kinderbuch gewann heuer der Norweger Jon Fosse mit seiner Erzählung «Schwester». Erschienen ist der Titel im kleinen Schweizer Verlag Bajazzo, dessen Leiterin Ingrid Rösli die Qualitäten des Buchs so auf den Punkt bringt: «In Jon Fosses Erzählung hört man den Klang der Kindheit.» Hilfe bei der Auswahl bietet auch das Institut für Kinder- und Jugendmedien, das auf seiner Homepage ein ganzes Verzeichnis empfehlenswerter Titel führt: www.sikjm.ch.
  • Dritte Variante für jene, die selber gern schmökern: Man folgt dem Beispiel von Christine Lötscher, Redaktorin der Fachzeitschrift «Buch & Maus», herausgegeben vom SIKJM. Denn neben den bereits genannten Kriterien soll ein Kinderbuch vor allem eines: «Der literarische Text muss, wie bei einem Buch für Erwachsene auch, gut geschrieben sein. Deshalb schaue ich als Erstes auf die Sprache. Wird die Geschichte anschaulich erzählt? Überzeugen die Figuren? Das spürt man relativ rasch», so Lötscher.

 
Bitte keine Klischees!
Ein Augenmerk richtet sie immer auch darauf, wie detailgetreu eine Geschichte geschrieben ist. Damit signalisiere die Autorin oder der Autor, dass das Publikum ernst genommen wird. Auf Anhieb fällt Lötscher eine Reihe von Namen ein, bei denen sie solche Qualitäten entdeckt hat. Beim Holländer Guus Kuijer merke man die «Lust am Sprachlichen», ihr gefallen auch die Bücher der Kanadierin Polly Horvath, der Deutschen Kirsten Boie und - ja, auch «Harry Potter» von J.K. Rowling, der Engländerin, die in Sachen Beliebtheit Astrid Lindgren wohl am nächsten kommt: «Harry Potter ist witzig, humorvoll, spannend», urteilt die Expertin.

Was ein gutes Kinderbuch ist, lässt sich auch im Ausschlussverfahren herausfinden: Eine Geschichte soll keine Klischees, schon gar keine Geschlechterklischees, und keine Stereotypen enthalten und nicht mit erhobenem Zeigefinger erzählt werden. Mit der Nennung von Titeln schlecht geschriebener Bücher halten sich Experten indes bewusst zurück. Anstatt zu richten, bemüht man sich heute darum, dass Kinder überhaupt lesen. Denn das ist keine Selbstverständlichkeit, wie die Pisa-Studie 2000 gezeigt hat. Danach macht jedem fünften Jugendlichen das Verständnis eines einfachen Textes Mühe.

Mit Projekten zur Leseförderung versucht zum Beispiel das SIKJM Gegensteuer zu geben. Unter anderem macht es darauf aufmerksam, dass Sprach- und Leseentwicklung viel früher als in der Schule gefördert werden sollten. Nämlich schon bei Kindern im Babyalter. «Mit Kindern zu sprechen, Geschichten zu erzählen und Fingerspiele zu machen ist die beste Basis für die spätere Lesefähigkeit», erklärt die SIKJM-Direktorin Christine Holliger. Ein weiterer Rat der Expertin: Kinder sollen möglichst früh selbständig wählen können. Denn wenn Erwachsene bestimmen, «hat das immer eine erzieherische Dimension». Wer das vermeiden will, muss akzeptieren, dass Kinder ihre eigenen Auswahlkriterien verteidigen. Pippi Langstrumpf würde das schliesslich auch tun.

Buchtipps
«Lesetipps für Lesespass. Lektüren für Kinder und Jugendliche mit Leseschwierigkeiten»; herausgegeben vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM). Klett und Balmer, 2004, Fr. 26.50