Die heutigen Schülerinnen und Schüler sind in der neuen deutschen Rechtschreibung oft sattelfester als die Lehrer, weil sie sich gar nicht bewusst sind, dass es eine Alternative geben könnte.» Livius Fordschmid, Deutschlehrer an der Kantonsschule Alpenquai in Luzern, hat wenig Verständnis für den Aufruhr, der momentan um die Rechtschreibreform gemacht wird.

Seit die Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) Anfang August die neue Rechtschreibung definitiv eingeführt hat, sorgt die Reform der deutschen Schreibe für hitzige Diskussionen. Von nun an wirken sich Fehler, die ein Schüler macht, weil er sich an die alte Rechtschreibung hält, auf die Noten aus. Wer recht haben will und nicht Recht, der handelt sich ein dickes rotes Falsch ein.

«Für die Schulen ist der Entscheid der EDK eher ein Vorteil», sagt Beat W. Zemp, Zentralpräsident des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Es sei jetzt endlich klar, was gilt. «Und das ist – mit wenigen Änderungen – nichts anderes als die Rechtschreibung, die bereits seit 1998 an Schweizer Schulen gelehrt wird.»

Ähnlich sieht das auch EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling: «In der Schule ist der Entscheid kein Thema, weil bis und mit Oberstufe keiner mehr in der Schule ist, der noch die alte Rechtschreibung kennt.»

Noch einmal über die Bücher

Aber nicht die ganze Reform ist seit den Sommerferien notenrelevant. In einigen Bereichen – der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Zeichensetzung und der Worttrennung am Zeilenende – müssen die Verantwortlichen noch einmal über die Bücher. Grund: Nicht alles, was am Anfang der Reform sinnvoll erschien, hat den Praxistest auch bestanden. So drohte zum Beispiel der Unterschied zwischen sitzen bleiben (auf der Parkbank) und sitzenbleiben (in der vierten Klasse) mit der neuen Rechtschreibung zu verschwinden, weil fortan für beide Fälle nur noch sitzen bleiben richtig sein sollte.

Um dafür zu sorgen, dass nur sinnvolle Reformen Einzug in die neue Rechtschreibung halten, formten die Bildungsminister aller deutschsprachigen Länder Ende 2004 den Rat für Rechtschreibung. Er hat die Aufgabe, sich das neue Regelwerk gründlich anzuschauen und wo nötig die Reform zu reformieren. Damit die Diskussion nicht einseitig geführt wird, gehören dem Rat Befürworter wie auch Gegner der neuen Rechtschreibung an.

Die Verantwortlichen nehmen ihre Aufgabe sehr ernst: Während der letzten Monate prüften sie die heiklen Punkte und kündigten «baldige Änderungen» an. Bevor sich der Rat aber an den Rest der Reform machen konnte, schoben die Minister einen Riegel: Sie teilten die Reform in «strittige» und «unstrittige» Bereiche und beeilten sich, die «unstrittigen» wie geplant per August 2005 verbindlich zu machen.

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen widersetzten sich dem Entscheid, und auch der Kanton Bern stellte sich quer. «Wir wollen die neue Rechtschreibung erst dann definitiv einführen, wenn alle strittigen Punkte geklärt sind. Es nützt unserer Meinung nach nichts, zum jetzigen Zeitpunkt einen Teil der Reform verbindlich zu machen», erklärt Robert Furrer, Generalsekretär der Berner Erziehungsdirektion.

«Dass der Kanton Bern sich vorerst vom Entscheid der EDK distanziert hat, kann für den einzelnen Schüler Nachteile haben», sagt Lehrerverbandspräsident Zemp, «etwa dann, wenn eine Familie den Kanton wechselt.» Wenn es im gleichen Land verschiedene Richtlinien zur Rechtschreibung gebe, helfe das letztlich keiner der Parteien.

Was gilt als Fehler und was nicht?

EDK-Präsident Stöckling ist weniger besorgt: «Natürlich ist der Entscheid der Berner kein Musterbeispiel von Föderalismus, aber ein echtes Problem ist es auch nicht.» Hauptsache sei, dass die Lehrer in jedem Kanton wüssten, was als Fehler gelte und was nicht.

Auch an den Schulen wird die Reform kaum diskutiert. «Die neue Rechtschreibung ist bei uns kein grosses Thema», sagt Kantonsschullehrer Livius Fordschmid. Man halte sich an die Empfehlungen der EDK und an den Duden. Dass Schüler wegen der neuen Regelung ins Schleudern geraten könnten, schliesst er aus: «Über 90 Prozent der Rechtschreibung sind nicht von der Reform betroffen. Wenn diese sitzen, wird ein Schüler, der weiterhin nach der alten Regelung schreibt, bestimmt nicht durchfallen.»

«Ein Sturm im Wasserglas» ist die Diskussion für Lennart Falck, Deutschlehrer und Prorektor der Winterthurer Kantonsschule Im Lee: «Viele der Beispiele, die immer herumgereicht werden, kommen in der Praxis nur selten vor.» Er und seine Kollegen korrigieren seit den Sommerferien nach den neuen Vorgaben.

Odilo Abgottspon, Deutschlehrer an der Kantonsschule Luzern, will das Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler für die verschiedenen Schreibweisen schärfen: «Im Alltag treffen meine Schüler meist auf die alte Rechtschreibung.» Es sei deshalb wichtig, ihnen die Differenzen zwischen alter und neuer Regelung bewusst zu machen. «Mit einer Klasse werde ich demnächst den Leitfaden der NZZ durchnehmen, damit sich die Schüler ein Bild von den Unterschieden machen können.»

Beim Korrigieren der alten Rechtschreibung lässt Abgottspon hingegen Milde walten: «Für einen guten Aufsatz zählen ganz andere Kriterien, wie zum Beispiel Stil und Wortgewandtheit. Ich markiere die alte Rechtschreibung mit Klammern und sehe momentan auch keinen Grund, das zu ändern.»

Als Gegner der neuen Rechtschreibung will Odilo Abgottspon aber nicht verstanden werden: «Abgesehen von der Getrennt- und Zusammenschreibung ist die neue Rechtschreibung eine gute Sache.» Er wünsche sich lediglich mehr Toleranz von allen Seiten: «Der Idealfall wäre, wenn diese Diskussion darin endet, dass man mehrere Varianten zulässt, wo das Verständnis nicht beeinträchtigt wird.»

A von B unterscheiden

Beat W. Zemp vom Verband der Lehrerinnen und Lehrer kann sich für die ständige Zunahme der Varianten aber nicht begeistern: «Die vielen Alternativen sind für die Schulen eher eine Belastung.» Oft müsse selbst der Lehrer nachschlagen, welche Schreibweise denn nun zulässig ist und welche nicht. Allerdings erwartet Zemp, dass sich die Rechtschreibung auch in den kommenden Jahren weiterentwickeln wird: «Ein Teil der Varianten dürfte wieder verschwinden, wenn sich allmählich eine bestimmte Schreibweise als Norm etabliert.»

Aber egal, ob Zemp damit nun recht hat oder Recht – auf den schulischen Alltag, so Deutschlehrer Livius Fordschmid, habe die neue Rechtschreibung immer weniger Auswirkungen: «Die Fehler, die wirklich stören, werden ohnehin nicht im Bereich der neuen Rechtschreibung produziert.»

Auch für den Unterricht von Primarschullehrerin Chantal Nägeli in Urdorf ZH hat der Entscheid der EDK kaum Konsequenzen. «In der Unterstufe ändert sich dadurch nicht viel», sagt sie. Da gehe es eher um «alle» statt «ale» und «mehr» statt «mer». «Im Moment lernen meine Erstklässler die Buchstaben, und ich bin froh, wenn sie ein A von einem B unterscheiden können.»

Quelle: Andreas Eggenberger