Das Problem:
Mir ist etwas völlig Unbegreifliches passiert. Wider
alle Vernunft habe ich mich in einen jungen Mann verliebt,
der mein Sohn sein könnte er ist 22. Ich bin verwitwet
und habe lange ohne seelische und körperliche Zuwendung
eines Mannes gelebt, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich
meine hart erarbeitete Selbstständigkeit und Unabhängigkeit
nicht mehr aufgeben wollte. Es ist mir gelungen, die intensiven
Gefühle für den jungen Mann in erlaubte Bahnen zu
lenken. Trotzdem kann ich ihn einfach nicht ganz loslassen.
Lachen Sie mich bitte nicht aus!
Anna G.
Koni Rohner, Psychologe FSP:
Wieso sollte ich Sie auslachen? Ich freue mich über jede
Verliebtheit und kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie der
Blitz gerade bei einem jungen Mann getroffen hat. Doch was
meinen Sie mit «erlaubten Bahnen»? Wäre eine
sexuelle Begegnung mit ihm für Sie etwas Verbotenes? Falls ja: weshalb? Er ist ja nicht mit Ihnen
verwandt, und er ist erwachsen. Ich würde allen Mut zusammennehmen
und sondieren, ob auch er an einem erotischen Kontakt mit
Ihnen interessiert ist. Entweder geht er darauf ein, oder
er wird Sie zurückweisen.
Glauben Sie mir: Wenn die Karten auf dem Tisch liegen, ist
die Situation sehr viel leichter zu ertragen, als wenn im
Dunkeln ein Feuer schwelt, das nicht ausbrechen darf. Mit
anderen Worten: Eine klare, schmerzhafte Zurückweisung
wird Ihnen die Kraft geben, das Kapitel abzuschliessen. Und
wenn die Anziehung gegenseitig ist, erleben Sie vielleicht
sogar die leidenschaftlichste Begegnung Ihres Lebens.
In einem alten französischen Chanson heisst es: «Elle
court, elle court, la maladie damour, elle unit dans
son lit des cheveux blonds et des cheveux gris.» (Die
Verliebtheit vereinigt blonde und weisse Haare.) Natürlich
sind wir die Bilder von ergrauten Herren mit jungen Frauen
eher gewohnt als das Umgekehrte. Aber das ist nur eine gesellschaftliche
Konvention, die gerechterweise am Zerbröckeln ist. Wieso
soll sich eine reife Frau nicht von einem jungen Mann angezogen
fühlen? Alles deutet nämlich darauf hin, dass der
sexuelle Appetit der Männer früher nachlässt
als jener der Frauen. Während sich das angeblich starke
Geschlecht ab 50 um seine Potenz zu sorgen beginnt, erleben
Frauen zwischen 40 und 50 oft einen starken Schub sexueller
Kraft.
Obwohl viele Frauen noch immer einen zumindest leicht älteren
Partner wählen, gewinnt das umgekehrte Muster immer mehr
an Attraktivität zumindest im Showbusiness. So
haben Madonna, Cher und Tina Turner alle jüngere Partner.
Und wieso soll, was den Prominenten recht ist, nicht allen
Frauen billig sein, die den Wunsch danach verspüren?
Ganz unabhängig davon, ob Mann oder Frau älter
ist, gibt es natürlich aus psychologischer Sicht einiges
zu Partnerschaften mit grossem Altersunterschied zu sagen.
So soll man nicht immer, wenn etwas ungewöhnlich oder
unkonventionell ist, gleich eine neurotische Störung
vermuten. Die Wahl eines 20 Jahre älteren Partners braucht
nicht Ausdruck eines Mutter- oder Vaterkomplexes zu sein.
Die Liebe hat eben etwas Anarchistisches. Sie ist nicht berechenbar
und kann auch da Brücken schlagen, wo sie keiner erwartet
hätte.
Altersunterschiede können befruchten
Natürlich sind alte und junge Menschen nicht in derselben
Lebensphase. Ihre Energien unterscheiden sich; sie haben andere
Entwicklungsaufgaben, sind an einer andern Stelle des Lebenswegs.
Das führt oft dazu, dass es nicht zu lebenslangen Beziehungen
kommt, dass eben nur ein kurzes Wegstück gemeinsam gegangen
werden kann. Aber auch hier gibt es Ausnahmen.
Voraussetzung für eine lang anhaltende Partnerschaft
mit grossem Altersunterschied sind sicher grosse Selbstständigkeit,
viel Toleranz und viel Verständnis für die Freiheit
auf Seiten beider Partner. Es heisst zwar: «Gleich und
Gleich gesellt sich gern», aber ebenso: «Gegensätze
ziehen sich an.» Gerade dass der andere an einem andern
Punkt seines Lebens steht, kann besonders wertvoll sein und
die Beziehung befruchten. Wenn jeder seinem eigenen Rhythmus
folgt, sind nämlich immer wieder anregende und leidenschaftliche
Begegnungen möglich.
Eine lebendige Beziehung braucht Nähe und Distanz,
Vertrautheit und Fremdheit, Offenheit und Geheimnis. Das Schöne
an Begegnungen ist nicht nur, Ähnlichkeiten zu erkennen,
sondern ebenso, von Fremdem bereichert oder herausgefordert
zu werden. Vorurteile, Klischees, Schemata, enge Erwartungen
und Vorstellungen sind der Tod jeder Liebe. Die Liebe braucht
Luft und zieht ihre Beständigkeit paradoxerweise aus
der Spontaneität. Das gilt für alle Paare
und zwar ganz unabhängig vom Altersunterschied.