Behinderte liegen uns nur auf der Tasche», verkündete das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) letzte Woche schweizweit auf Plakaten und sorgte damit für Empörung. Vier Tage später schob das Amt den Nebensatz nach: «wenn wir ihre Fähigkeiten nicht nutzen.» Behinderte soll man möglichst ins Arbeitsleben integrieren – so die Botschaft des Bundesamts. Einverstanden. Nur: Das BSV hat genau dies jahrelang selbst verhindert. Und zwar bei den psychisch Kranken – also bei jenen Behinderten, die in letzter Zeit immer wieder als Simulanten an den Pranger gestellt wurden. Das zeigt eine neue Studie.

Drei Forscher analysierten im Auftrag des BSV in jahrelanger Arbeit 1200 Dossiers akribisch und können nun erstmals wissenschaftliche Aussagen über die genaue Diagnose, den Krankheitsverlauf und die Massnahmen der IV bei psychisch Kranken machen. Das brisanteste Resultat: Bei 40 Prozent der Betroffenen haben die Ärzte zwar berufliche Massnahmen empfohlen, aber nur bei 13 Prozent hat die IV diese auch bewilligt; bei Ausländern sogar nur in drei Prozent der Fälle. Fazit: Die IV selbst hat die hohe Zahl der Rentner mit psychischen Erkrankungen mitverursacht.

Zu spät für eine Rückkehr ins Arbeitsleben

«In den neunziger Jahren haben wir Fehler gemacht, gerade bei der Integration von psychisch Kranken», streut IV-Chef Alard du Bois-Reymond Asche nicht aufs eigene Haupt, sondern auf jenes seiner Vorgänger. Damals hätten aber nicht nur das Bundesamt, sondern auch Sozialhilfebehörden und politische Parteien es für richtig befunden, diese Leute in die IV abzuschieben.

Doch der eingestandene Fehler nützt den Betroffenen nichts. Im Gegenteil: Das BSV will genau bei den psychisch kranken IV-Rentnern weiter sparen. Bis zu 12500 von ihnen sollen die Rente verlieren, wenn sie bei der Integration nicht mitwirken oder den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben nicht schaffen. Das sieht die 6. IV-Revision vor. Im Klartext heisst das: Früher liess die Invalidenversicherung die psychisch Kranken im Regen stehen, und heute, wo eine Integration fast unmöglich ist, will man ihnen die Rente nehmen. «Das ist problematisch», meint auch Niklas Baer, Leiter der wissenschaftlichen Studie.

IV-Chef du Bois-Reymond sieht das Problem. Für viele psychisch Kranke mit IV-Rente sei es zu spät für eine Rückkehr ins Arbeitsleben, meint auch er. Und das Ziel, 12500 IV-Rentner wieder in den Arbeitsmarkt zurückzuführen, sei ehrgeizig. Druck aufsetzen wolle man aber vor allem bei den «25-Jährigen mit Rente seit fünf Jahren und überwundener Depression» und nicht bei den «55-Jährigen mit Rente seit zehn Jahren». Trotzdem warnt Niklas Baer, der auch die Fachstelle für Rehabilitation der psychiatrischen Dienste des Kantons Basel-Landschaft leitet, vor allzu grossen Erwartungen: «Es fehlen schlicht Konzepte, wie man Leute mit psychischen Krankheiten erfolgreich ins Arbeitsleben integriert.» Die Erfolgsquote von Integrationsmassnahmen der IV liege derzeit bei nur 17 Prozent.

Psychisch Kranke sind keine Simulanten

Kein Wunder, machte das BSV die Studie bloss verschämt öffentlich. So erwähnte es die brisanten Zahlen zu beruflichen Massnahmen in der Pressemitteilung schlicht gar nicht. Schade – denn die Untersuchung belegt auch, dass psychisch kranke IV-Rentner keine Simulanten sind (siehe Grafik unten). Die meisten Betroffenen hatten seit langem psychische Probleme, etwa weil sie in der Jugend Opfer von Gewalt geworden waren oder an chronischen Depressionen litten. Erst nach jahrelangen Versuchen, sich im Erwerbsleben zu halten, kamen sie mit durchschnittlich 40 Jahren zur IV.

Solche Ergebnisse zu kommunizieren würde vielleicht mehr Vorurteile beseitigen als die umstrittene Plakatkampagne.

Quelle: Stefan Jäggi

Hier finden Sie die komplette Studie zum Herunterladen (5,4 MB).