«Nid so schnäll», ruft die junge Mutter. Ihr dreijähriger Sohn klettert gerade die Sprossenwand hoch. In der Mitte angekommen, sucht er ihren Blick. «Geh nicht ganz hoch», sagt die Mutter, bleibt unter ihm stehen. Die anderen Kinder sitzen bereits im Kreis, die schützenden Matten sind entfernt. Fabio nimmt flink Sprosse für Sprosse. Schon ist er ganz oben, 2.70 Meter über dem Boden. «Komm runter», fleht seine Mutter. Fabio dreht sich um, lacht stolz und – rutscht ab. Iris Spycher breitet die Arme aus, versucht ihr Kind aufzufangen. Es gelingt ihr nicht. Mit voller Wucht knallt der 13 Kilogramm schwere Junge seitlich auf ihren Kopf. Dieser wird abgeknickt und mit einem hörbaren Knacksen auf die linke Schulter gedrückt.

Es ist der 26. April 2004. Fabio ist nichts passiert. Das ist alles, was in diesem Moment für Iris Spycher zählt. Sie steht auf, nimmt den Kleinen an die Hand und bringt ihn heim. Der Nacken schmerzt. «Das wird schon wieder», denkt Spycher, geht früh zu Bett. Mitten in der Nacht wacht sie mit höllischen Kopfschmerzen auf, kann sich kaum mehr bewegen. «Ruf den Doktor», sagt ihr Mann, aber Iris Spycher ist «nid eini, wo wäg allem geit».

Der Arzt besteht auf der Suva-Klinik

Die Schmerzen bleiben, Spycher ruft den Hausarzt an, den sie seit ihrer Kindheit kennt. Seine Behandlungsversuche scheitern, und bei der nächsten Konsultation sitzt bereits ein Kreisarzt der Suva mit im Behandlungszimmer. Dieser wird später schreiben, seines Erachtens lägen Frau Spychers Probleme «ganz klar im psychischen Bereich». Derselbe Arzt besteht auch darauf, dass Iris Spycher nach Verschlechterung ihres Zustands nicht wie vom behandelnden Rheumatologen empfohlen in die spezialisierte Rehaklinik Rheinfelden eingewiesen wird, sondern in die Suva-eigene Klinik in Bellikon. Der Suva-Kreisarzt teilt zwar die Bedenken des Rheumatologen, bleibt aber bei seinem Entscheid für Bellikon. «Man muss einfach vorsichtig sein, dass wir Ärzte uns nicht gegeneinander ausspielen lassen», schreibt er in seiner Begründung.

Spycher ist eine von 17'000 Betroffenen

Iris Spycher ist ein Mensch, der viel von sich verlangt. Bis Sohn Fabio geboren wird, arbeitet sie zu 100 Prozent als Sachbearbeiterin bei der Swisscom, betreut Grosskunden. Eine Beförderung steht ins Haus. Dann kündigt sich das Wunschkind an. Nach dem Mutterschaftsurlaub bleibt Spycher zu 40 Prozent im Job. In der Freizeit pflegt die feingliedrige Frau mit den langen blonden Haaren einen grossen Freundeskreis, unternimmt viel mit Mann und Sohn. Sie fährt leidenschaftlich Snowboard, macht Berg- und Velotouren, liebt Aerobic.

Heute ist Iris Spycher froh, wenn sie die Treppe zur Wohnung in dem kleinen Dorf im Berner Oberland bewältigen kann. Nimmt sie den Boden feucht auf oder den Staubsauger zur Hand, muss sie sich nachher hinlegen. Manchmal für Stunden.

Just einen Monat bevor der kleine Fabio mit seinem Sturz das Leben seiner Familie grundlegend veränderte, hatte das Bundesgericht ein Urteil gefällt, das auch für Iris Spycher bis heute wegweisend ist: Schmerzpatienten, so die Bundesrichter, können ihre Beschwerden mit Willensanstrengung überwinden, sprich arbeiten gehen. Aufgrund dieses Urteils erhalten Menschen, die Krankheitssymptome aufweisen, für die keine objektivierbare körperliche Ursache gefunden werden kann, in der Regel keine Rente mehr. Und: Im Rahmen der IV-Revision 6a werden auch jene 17'000 Betroffenen begutachtet, die aufgrund eines solchen Leidens bereits eine Rente erhalten haben. «Wieder arbeitsfähig machen», heisst das im Fachjargon.

«Ich wäre die Erste, die wieder arbeiten gehen würde», sagt Iris Spycher. «Dafür würde ich alles geben.» Steif sitzt sie am Esstisch ihres Wohnzimmers. Ihre Bewegungen wirken verlangsamt, ihre Stimme matt. Wenn der Himmel klar ist, sieht man vom Tisch aus die Berge, auf denen Iris Spycher früher so gerne gewandert ist.

«Nachdem was wir erlebt haben, würden wir alles anders machen: sofort die Ambulanz kommen lassen und einen Anwalt anrufen. Aber wir wussten doch nicht, dass einem sonst nicht geholfen wird», sagt Iris Spychers Mutter. Sie und ihr Mann kümmern sich seit dem Unfall um Fabio und den Haushalt der kleinen Familie. Da Iris Spycher seit 2006 keinerlei finanzielle Unterstützung mehr erhält und ihr Mann als Buschauffeur keinen grossen Lohn hat, unterstützen die Eltern die Familie auch finanziell. «Noch geht das», sagt Iris Spychers Mutter. «Aber was passiert mit unserer Tochter, wenn wir selber krank werden? Wir sind nicht mehr die Jüngsten.»

Keine Arznei gegen das Hämmern im Kopf

Iris Spycher dreht sich zur Mutter um und lächelt. Sie bewegt sich, als hätte sie einen Stab in der Wirbelsäule. «Der Schmerz geht niemals weg», sagt sie. «Nicht am Tag, nicht in der Nacht.» Das Morphiumpflaster, das sie ständig trägt, lindert die Nackenschmerzen ein wenig, aber gegen das Hämmern im Kopf kommt kein Medikament an. An schlechten Tagen verlässt Iris Spycher das Schlafzimmer nicht. Kommt Fabio mittags von der Schule, zieht er in der Wohnung die Vorhänge. Er weiss, dass es seiner Mama im Dunkeln besser geht.

2006 attestiert die Unabhängige medizinische Gutachterstelle Iris Spycher eine hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit. Diagnose: «Halswirbelsäulen-Distorsionstrauma nach Unfall, Hartspann der Muskulatur, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Schwindel, Depression, sekundäre Fibromyalgie». Die Gutachter beschreiben die Frau als einen Menschen mit einer ausgeprägten Leistungsbereitschaft und dem starken Wunsch, möglichst rasch wieder autonom und leistungsfähig zu werden. Die Suva stellt ihre Leistungen trotz dem Gutachten per Ende Jahr ein.

Eine IV-Rente erhält sie bis heute nicht

Iris Spycher klagt und beantragt gleichzeitig eine IV-Rente. Die IV-Stelle Bern schickt Spycher zur medizinischen Abklärungsstelle Swiss Medical Assessment- and Business-Center (SMAB). Diese gewinnorientierte Gutachterstelle ist fast vollständig von Aufträgen der IV abhängig, wie ein späteres Bundesgerichtsurteil zeigen wird. Das SMAB schreibt Iris Spycher gesund. Sie könne an ihren angestammten Arbeitsplatz zurückkehren: 8,4 Stunden täglich leichte Büroarbeiten seien zumutbar, davon nur eine Stunde an einem Computer. Sie dürfe dabei den Kopf nicht drehen. Die Tatsache, dass Spycher an zwei Grossbildschirmen gearbeitet hat, blenden die Gutachter aus. «Gebt ihr einen solchen Job, stellt sie doch ein», donnert Iris Spychers Anwalt Philip Stolkin in seinem Plädoyer in den Gerichtssaal. Weil der Fachanwalt für Haftpflicht- und Versicherungsrecht genau wie seine Klientin weiss, dass es diesen Job nicht gibt. Nirgendwo. Das Rentenbegehren wird dennoch abgelehnt.

Iris Spycher ist nicht die Einzige, die von einer von der IV abhängigen medizinischen Abklärungsstelle arbeitsfähig geschrieben wird. Stolkin zieht den emeritierten Staatsrechtsprofessor Jörg Paul Müller bei. Dieser kommt tatsächlich zum Schluss, dass Klienten mit komplexen Krankheitsbildern durch diese medizinischen Abklärungsstellen nicht fair begutachtet werden (siehe Beobachter 14/12 «Gutachter: Die Gesundschreiber»).

Für Iris Spycher ändert weder eine Nachbegutachtung, die ihre Arbeitsunfähigkeit bestätigt, noch das Rechtsgutachten Müllers etwas. Sie wird von Therapie zu Therapie geschickt, eine Rente erhält sie bis heute nicht. «Wenn ich meinen Sohn nicht hätte, wäre ich wohl nicht mehr da», sagt sie. So zermürbend sei es, als Lügnerin hingestellt zu werden, so unerträglich seien die Schmerzen an gewissen Tagen. Der Alltag der 41-Jährigen spielt sich mehrheitlich in den eigenen vier Wänden ab. Jeder Spaziergang, das Einkaufen, ein Restaurantbesuch bringen sie an ihre Grenzen. «Schlimm ist, dass man mir meine Behinderung nicht ansieht.»

Tatsächlich würde ihr Leben anders aussehen, wenn ihre Behinderung sichtbar wäre. Zumindest finanziell. Denn nicht nur das Bundesgericht behandelt Menschen mit organisch nicht nachweisbaren Beschwerden anders als solche mit sichtbaren Einschränkungen, auch Unfallversicherungen kennen zweierlei Recht. So werden dort Menschen, die wie Spycher an einer Verstauchung der Halswirbelsäule oder ähnlichen Beschwerden leiden, nach strengeren Kriterien beurteilt als andere. «Vom Aktenstapel aus wird entschieden, wie schwer ein Unfall einzustufen ist», sagt Spychers Anwalt Philip Stolkin. Werde ein Unfall wie bei Spycher nur als mittelschwer eingestuft, falle er grundsätzlich als Ursache für eine Invalidität weg. Unabhängig davon, wie es dem Opfer tatsächlich gehe.

Spychers Fall liegt in Strassburg

«Die Zeiten, in denen Unfallopfer in der Schweiz auf ein faires Verfahren zählen konnten, sind vorbei», beklagt Stolkin. Die Kriterien, die Unfallversicherungen und IV aufstellten, seien nicht nur willkürlich, sie seien unerfüllbar respektive unbeweisbar. «Die Beiträge werden kassiert, aber im Schadensfall wird nichts ausbezahlt. Das ist ein Beschiss an den Versicherten.»

Bereits die alten Griechen hätten erkannt, dass Gesundheit Körper, Geist und soziale Faktoren umfasse, sagt Stolkin. «Diese Erkenntnis hindert das Bundesgericht aber nicht daran, einen mechanistischen Gesundheitsbegriff anzuwenden, der keinen Bezug zum Alltag hat.» Das sei weder juristisch noch medizinisch haltbar. Zudem sei es diskriminierend. Darum holte Stolkin den Staatsrechtler Jörg Paul Müller ein zweites Mal an Bord und bat ihn, den Fall Spycher zu beurteilen. Das Gutachten, das Müller zusammen mit dem Arboner Juristen Matthias Kradolfer erstellt hat, stellt der Schweiz kein gutes Zeugnis aus: Das Verfahren bei der Abklärung des Invaliditätsgrads bei den beschriebenen Krankheitsbildern verstosse gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Zudem verletze die vom Bundesgericht angenommene Überwindbarkeitsvermutung das Diskriminierungsverbot.

Problemkreis Schmerzstörungen

Inzwischen liegt Iris Spychers Fall dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg zur Beurteilung vor. Bestätigt Strassburg, was Müller und Kradolfer kritisieren, hätte das weitreichende Folgen für die laufende IV-Revision 6a. Die beiden Juristen hoffen allerdings, «dass eine befriedigende Lösung gefunden werden kann, unabhängig von einem allfälligen Urteil des EGMR».

Ralf Kocher, Fürsprecher und Leiter Rechtsdienst IV, nimmt das Gutachten gelassen. Beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) will man auf jeden Fall das Urteil aus Strassburg abwarten, bevor man reagiert. Denn Kocher geht nicht davon aus, dass «wir eine Rüge einfangen». Bundesgericht und Gesetzgeber hätten dem Diskriminierungsverbot genügend Rechnung getragen. «Man verzichtete bewusst darauf, gewisse Krankheitsbilder von der Leistungsberechtigung auszuschliessen», sagt Kocher. Und weiter: «Renten aufgrund von Schmerzstörungen sind unter gewissen Voraussetzungen auch heute noch möglich.» Ob aber jede subjektive Störung des Gesundheitszustands ein Anrecht auf Leistungen der IV geben solle, sei letztlich eine politische respektive gesellschaftliche Frage, sagt Kocher. «Parlament und Volk haben sich klar für die heutige Regelung entschieden. Wir setzen sie lediglich um.»

Für Iris Spycher und ihre Familie bleibt nichts als die Hoffnung auf Strassburg. Die 41-jährige Frau sagt, sie habe lange gehofft, was ihr geschehe, sei nur ein böser Traum. «Ich dachte, in der Schweiz gebe es Gesetze und Gerechtigkeit. Das glaube ich heute nicht mehr.»