Mit voller Härte
Der Bundesrat will Tausenden Behinderten die IV-Rente nehmen. Der Abbau läuft gnadenlos. Renten werden per Federstrich gekürzt oder gleich ganz gestrichen.
Veröffentlicht am 3. August 2010 - 07:59 Uhr
An einem Herbsttag erhält Remo J. sein Todesurteil. Er habe, eröffnet der Arzt dem damals 29-Jährigen, noch fünf Jahre zu leben. Allenfalls sieben. Das war 1987, der 4. September. Dieses Datum vergisst Remo J. nie mehr. Er hatte sich mit HIV infiziert. Inzwischen ist der ehemalige Maurer 52. Es sind 23 Jahre vergangen, und er lebt immer noch. Den Tod hat er vorerst besiegt. Doch droht ihm jetzt der finanzielle Exitus.
Die IV hat ihm, nach 15 Jahren, Knall auf Fall die Rente halbiert. Remo J. trägt sein blondes Haar kurz, nur die eingefallenen Wangen deuten auf die HIV-Infektion hin, die er nur als «unheilbare kräftezehrende Krankheit» bezeichnet. Er trägt schwarze Röhrli-Jeans, blaues Jeanshemd und zwei glitzernde Ohrstecker im linken Ohr. Sechs Pillen muss er wegen der Krankheit jeden Tag schlucken, früher waren es 13. Insgesamt 43 Kilo davon hat er in all den Jahren eingeworfen. Das hat er kürzlich ausgerechnet. Zeit hat er ja genug.
15 Jahre lang lebte er von einer vollen IV-Rente. 1900 Franken im Monat. Die wurde ihm nun, auf den 1. April 2010, halbiert – ohne dass er vorgängig umfassend medizinisch untersucht worden wäre. J. ging nur wie gewohnt alle drei Monate in die HIV-Sprechstunde ins Universitätsspital Basel.
Die IV teilte ihm in einem trockenen Schreiben mit, er könne nun «als Hilfsarbeiter mit Teilpensum von 50 Prozent» wieder arbeiten gehen, weil sich sein Gesundheitszustand «erheblich verbessert» habe. Zu diesem Befund kommt die IV aufgrund eines dürren, dreiseitigen Fragebogens, den sie vom Arzt der HIV-Sprechstunde ausfüllen liess – aufgrund eines Aktenentscheids also. Unberücksichtigt blieben seine Depression und seine nach wie vor bestehende Drogenabhängigkeit.
Nach 15 Jahren Absenz vom Arbeitsmarkt soll Remo J. wieder arbeiten gehen und seine 50 Prozent «Restarbeitskraft» verkaufen, wie das im Jargon heisst. In der Theorie klingt das gut. Aber welcher Arbeitgeber wartet ausgerechnet auf die 50 Prozent Restarbeitsfähigkeit von Remo J.?
Ihm ist das passiert, was in der nächsten Zeit viele IV-Rentner erwartet: Die Rente wird überprüft. Für diesen Vorgang gibt es ein geschminktes Wort, «Rentenrevision», damit man nicht von Rentenabbau sprechen muss. Und weil die IV hochdefizitär ist und der Bundesrat beschlossen hat, auch bestehende Renten zu kürzen oder zu streichen, gehen die IV-Stellen unzimperlich vor, wie der Fall von Remo J. zeigt. Viele Betroffene dürften sich nicht wehren, weil ihnen die Kraft dazu fehlt.
Remo J. versteht das alles nicht, zündet sich eine Zigarette an. «Ich bekomme diese Rente verdammi noch mal seit 15 Jahren.» Ihm will nicht in den Kopf, wie man sie ihm so mir nichts, dir nichts zusammenstreichen konnte. Der Umgang mit Ämtern ist nichts für den gelernten Bauarbeiter. Wo andere ordnerweise Dossiers auspacken und mit einem Anwalt im Hintergrund auftrumpfen können, zupft er nur drei, vier zerknüllte Zettel hervor. Der Papierkram überfordert ihn. Er weiss nicht einmal, wieso es ihm gesundheitlich bessergehen soll. Man hat ihm nie einen Arztbericht gezeigt. Einen Anwalt kann er sich nicht leisten. Auf die Idee käme er gar nicht.
Damit er die Miete zahlen kann, hat er sich bei der Schwester Geld geborgt. Zum Glück kann er bei der Mutter, die in der Nähe wohnt, mittags essen gehen. Doch welcher erwachsene Mann isst schon gern am Mittagstisch der Mutter, die selber sehr bescheiden von ihrer AHV lebt? «Ich habe es bis hier oben», brummt er und schlägt sich mit der rechten Handkante an die Stirn.
Nach der Diagnose 1987 arbeitet Remo J. erst einmal normal weiter, als ob nichts passiert wäre, den Befund verdrängend. Er steigt sogar zum Polier auf. Dann gehts bergab: Seine Ehe wird geschieden, 1993 bekommt er eine Lungenentzündung. Noch im Spital verheimlicht er seine HIV-Infektion. Doch die finden das natürlich schnell heraus. Dann geht die Firma in Konkurs, und er wird arbeitslos. 1995 erhält er eine volle IV-Rente – acht Jahre nach der Diagnose. Damit er nicht einfach untätig herumsitzen muss, hilft er jahrelang der Mutter, den bettlägerigen Vater bis zu dessen Tod zu pflegen.
«Heute, mit meinen 52 Jahren und 15 Jahren in der Versenkung, muss ich für das Facelifting der IV-Bilanzen herhalten», sagt er wütend. Remo J. ist kein politischer Mensch. Aber dass sein Fall mit dem politisch beschlossenen Abbau in der IV zu tun hat, das hat er begriffen. Wie schlampig und voreilig seine Rente gekürzt wurde, zeigt allein schon die Tatsache, dass nach der Nachfrage des Beobachters sofort alles rückgängig gemacht wird. Und nun auch der behandelnde Chefarzt vom Unispital interveniert. «Remo J. müsste umfassend medizinisch begutachtet werden», sagt Professor Manuel Battegay, «um seine Arbeitsfähigkeit einzuschätzen.» Nun soll J. auch psychiatrisch untersucht werden, was vorher einfach unterlassen oder schlicht vergessen wurde. Bis diese Untersuchungen abgeschlossen sind, erhält Remo J. wieder die ganze Rente ausbezahlt.
Um die hochdefizitäre, verschuldete Invalidenversicherung zu sanieren, möchte der Bundesrat 16'000 Rentnerinnen und Rentner innerhalb von sechs Jahren wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern. Das bedeutet, dass pro Jahr 2700 Behinderte eine Stelle erhalten sollen. «Ein sehr sportliches Ziel», kommentierte dies spitz die Basler SP-Ständerätin Anita Fetz im Parlament.
IV-Rentner müssen heute aber nicht nur ihre Behinderung ertragen, sondern auch den Generalverdacht, die Versicherung zu betrügen (siehe nachfolgende Box). Das zeigt sich mitunter in der despektierlichen Sprache der Gutachter. Wie etwa bei Jost Gisler, 47, dem man nach neun Jahren, ebenfalls ohne medizinische Neubeurteilung, eine ganze IV-Rente gestrichen hat.
Stattdessen muss er über sich lesen: «Herr Gisler wirkt etwas rechthaberisch.» Sein «häufiges Schmerzgebaren» wirke «etwas demonstrativ» und «sein Verhalten mürrisch, teilweise fast unfreundlich». Dies steht in einem Bericht der beruflichen Abklärungsstelle (Befas) in Horw LU, einer privaten Stiftung, die ihre Aufträge von der IV erhält. Gisler war in diese Institution als Vollrentner hineingegangen, auf Geheiss der IV-Stelle, und kam nach dreiwöchiger Abklärung als praktisch Gesunder wieder heraus. Die Rente wurde ihm daraufhin gestrichen – obwohl er fachmedizinisch nicht untersucht worden war.
Jost Gisler, ein drahtiger Mittvierziger, ist seit neun Jahren wegen eines Rückenleidens IV-Rentner. «Kaputte Wirbelsäule», bilanziert Gisler. Früher, als er noch gesund war, arbeitete er als Mechaniker und Dachdecker. Die Behinderung sieht man ihm nicht an, er hat eine gesunde Gesichtsfarbe. Manchmal wäre er froh, er wäre bleich, mager und im Rollstuhl. Dann müsste er sich wenigstens nicht ständig verteidigen, sähe so aus, wie sich Leute einen IV-Rentner vorstellen.
Seit Gisler in der Lehre war, plagen ihn Kreuzschmerzen, die sich im Verlauf der Jahre wie Messer in seinen Körper bohrten. Immer wieder verlor er wegen Arbeitsausfällen seinen Job. 2001 wurde operativ versteift, worauf die Schmerzen noch schlimmer wurden. Er erhielt eine IV-Rente.
2003 wurde das Implantat wieder entfernt. Jeden Morgen macht Gisler heute eine halbe Stunde Gymnastik, damit er überhaupt funktioniert. In einem Gutachten vom Mai 2010 bescheinigt ihm ein Facharzt einen chronifizierten «Überlastungs- und Schmerzzustand» mit «extremer Erschütterungsüberempfindlichkeit». Der Professor kommt zum Schluss, dass Jost Gisler im Umfang von 40 Prozent zu «kraftmässig leichteren Arbeiten mehr im Sitzen als im Stehen» fähig sei, dass allerdings jeweils nach drei Viertelstunden Entlastungsübungen nötig seien. Erschütterungen und monotones Stehen seien zu vermeiden, und er dürfe maximal fünf Kilo Gewicht heben. Für einen ehemaligen Handwerker eine ziemliche Einschränkung. Mit den Entlastungspausen betrüge die effektive Leistungsfähigkeit etwa 30 Prozent. Das entspricht einer ganzen IV-Rente.
Gisler folgte nur widerwillig dem Aufgebot zur beruflichen Abklärung, bockte, denn er war ja so krank wie eh und je. Warum also sollte er drei Wochen lang bohren, fräsen, Geschäftsbriefe schreiben und Muttern auf Gewindebolzen schrauben? «Die wollten mir von Anfang an die Rente wegnehmen», vermutet er. Doch diesen Widerstand hätte er gescheiter bleibenlassen. Er wird ihm negativ ausgelegt: «Eine Umschulung oder berufsbegleitende Theoriekurse sind mit seinem unsteten Verhalten und Gebaren kaum möglich», schreiben die Befas-Gutachter.
Die Berufsberater kritisieren auch, dass Gisler seine Schmerzen demonstrativ zeige: «Wenn er sich hinsetzt, dann mit einem Stöhnen, so dass es von allen klar hörbar ist.» Und weiter: «Ob das so stark in den Vordergrund gestellte Schmerzgebaren der Wirklichkeit entspricht, wagen wir zu bezweifeln.» Mit anderen Worten: Die Berufsabklärer unterstellen Gisler, er sei ein Simulant. Er könne – «wenn er will» – auch in guter Qualität produzieren. Nur eben: Gisler wolle nicht.
Der 17-seitige Bericht schliesst: «Verdacht auf dysfunktionales Verhalten, mit dem Ziel, keiner Arbeit in der freien Marktwirtschaft nachgehen zu müssen.»
Zum ersten Mal in seinem Leben hat sich Gisler einen Anwalt genommen. Seine letzten Reserven von 5000 Franken dafür aufgebraucht und Geld bei Kollegen geliehen, um Beschwerde beim Verwaltungsgericht einzulegen. Sein Argument: Seine Rente habe er aufgrund umfassender medizinischer Gutachten erhalten. Ein aktuelles werde einfach ignoriert. Die Rente sei ihm gestrichen worden aufgrund eines Aktenentscheids – ohne dass ihn ein IV-Facharzt nochmals untersucht hätte.
Christoph Horat, Geschäftsleiter der IV-Stelle Uri, bestätigt, dass sich die IV-Ärzte lediglich auf einen aktuellen Hausarztbericht stützten und ein «eingliederungsorientiertes Gespräch bei der IV-Stelle».
In der Zwischenzeit hat sich Jost Gisler zu einem anderen Gespräch angemeldet: bei der Sozialhilfe.
Die Angestellten der IV benutzen eine bislang geheime Checkliste, um mögliche Betrüger der Invalidenversicherung zu erkennen. Dazu gehen sie auch anonymen Anzeigen nach. Solche Hinweise werden sogar besonders ernst genommen. Die «Mittelland-Zeitung» hat die Liste kürzlich publiziert. Verdächtig macht sich ein IV-Rentner auch, wenn er schlecht erreichbar ist, an einem Schleudertrauma leidet oder einen «Migrationshintergrund» hat. Oder wenn sich eine IV-Rentnerin durch einen «hinreichend bekannten» Arzt oder Rechtsanwalt vertreten lässt.
Dies erzürnte den obersten Schweizer Arzt, den Präsidenten der schweizerischen Ärztegesellschaft FMH, Jacques de Haller, derart, dass er sich mit den Worten zitieren liess: «Solche Listen sind nicht akzeptabel. Das waren die Methoden der Stasi.» Wie die «Sonntags-Zeitung» berichtet, will jetzt auch IV-Chef Stefan Ritler die umstrittene Checkliste «unter die Lupe nehmen und bei Bedarf anpassen».