Hans Kündigs (Name geändert) Arm ziert eine Goldkette, an der Wohnzimmerwand hängen zwei Ölgemälde mit Goldrahmen, daneben stehen teure Lautsprecher und in der Garage drei Autos. «Ich bin kein Sozialschmarotzer», sagt der 58-jährige Mann, der für seine vierköpfige Familie monatlich 1'920 Franken Sozialhilfe bezieht. Von den drei mehr als 15-jährigen Autos sei nur eines eingelöst. All das seien Reste aus seiner Zeit als Millionär, als er, Inhaber eines Traditionsunternehmens im Zentrum von St. Gallen, in einem zweistöckigen Loft mit Indoor-Pool residierte. Das war Ende der neunziger Jahre. Ein Leben in Saus und Braus. Dann kam der Absturz mit Zwangsversteigerung der Liegenschaft, Liquidation des Geschäfts und ruinöser Kampfscheidung. «Muss man denn jedem Sozialhilfebezüger ansehen, dass er ein armer Teufel ist?», ereifert sich Kündig mit hoher Stimme, die sich manchmal fast überschlägt.

Die Polizei kam am frühen Morgen

Offenbar. Jedenfalls hat Albert Etter, Gemeindepräsident und Vizepräsident der Sozialhilfebehörde von Wittenbach, einer Vorortsgemeinde von St. Gallen, Anfang Jahr gegen Kündig Strafanzeige wegen mehrfachen Betrugs eingereicht.
Darum hat an einem Mittwoch Anfang März ein Trupp von sieben Polizisten mit Hausdurchsuchungsbefehl um 5.30 Uhr bei Kündig Sturm geläutet. Sie beschlagnahmten ein gutes Dutzend Ordner, zwei Computer und Bargeld in der Höhe von rund 9'000 Franken. «Das Sozialgeld für den Monat März und die ganze Reserve meiner Frau, unter anderem für deren Ausbildung», sagt Kündig. Darum habe er für die restlichen drei Wochen des Monats für sich, seine Frau und die zwei Kinder keinen Rappen gehabt. Er sei zur Caritas gegangen, die habe eine Stiftung gefunden, die ihm 1'000 Franken an den laufenden Lebensunterhalt zahlte. Und er bettelte in den Läden der Umgebung um abgelaufene Nahrungsmittel. Hart für einen ehemaligen Millionär. Die Situation wird sich kaum bessern, hat doch der zuständige Untersuchungsrichter auch Kündigs Postcheckkonto und jenes seiner Frau gesperrt. Und nicht nur das: Auch Akten und Unterlagen einer Beschwerde gegen das Sozialamt seien kurzerhand beschlagnahmt worden, meint Kündig. Das erschwere seinen Kampf gegen die Gemeinde wegen der Berechnung seiner Sozialhilfe.

Die Vorwürfe in der sechsseitigen Strafanzeige des Gemeindepräsidenten Etter sind happig. Kündig habe unrechtmässig Sozialhilfe bezogen, weil er Einkommen nicht gemeldet habe: Er habe dem Sozialamt verschwiegen, dass seine Frau seit März 2005 als Putzfrau arbeite, dass sie seit Oktober 2006 auch einen Praktikumslohn beziehe, dass er fünf Monate lang Unfalltaggelder erhalten habe und dass er von zu Hause aus ein Geschäft betreibe.

Kündig bestreitet die Vorwürfe auf der ganzen Linie: Er habe die Einkünfte persönlich auf dem Amt gemeldet, könne dies aber nicht schriftlich beweisen. Er habe jedoch alles in der Steuererklärung korrekt angegeben. «Verhält sich so jemand, der Sozialhilfegelder unrechtmässig beziehen will?», fragt er. Zudem werfe ihm die Gemeinde in der Strafanzeige Missbrauch von Sozialhilfeleistungen vor für Monate, in denen er gar keine Sozialhilfe bezogen habe, sondern nachweislich entweder im Beschäftigungsprogramm der Stiftung Business House gearbeitet oder Arbeitslosengeld erhalten habe.

Wer auch immer recht hat, eines ist klar: Kündig mag ein streitbarer Zeitgenosse sein, der auf die Nerven gehen kann, doch er verhält sich nicht wie jemand, der arglistig das Sozialamt täuschen will. Und für Betrug im strafrechtlichen Sinn braucht es Arglist, die die Gerichte nur sehr zurückhaltend annehmen. Man muss dafür geradezu ein Lügengebäude errichten. Zumindest davon kann im Fall Kündig kaum die Rede sein.

Weshalb schiessen hier Gemeinde und Untersuchungsrichter mit Kanonen auf Spatzen, fahren ein mit Strafverfahren und Hausdurchsuchung, obwohl mildere Massnahmen möglich wären? Und das während eines laufenden Verfahrens um Sozialhilfeleistungen, bei dem gerade auch die Gemeinde Partei ist?

Eine Eskalation in sechs Akten

Verständlich sind diese Vorkommnisse eigentlich nur vor dem Hintergrund eines jahrelangen Streits zwischen Gemeindepräsident Etter und Bürger Kündig. Kündig beantragte Sozialhilfe als gefallener Millionär mit drei Autos und Ölbildern. Das sticht dem Gemeindepräsidenten in die Nase. Dann macht Kündig unverzeihliche Fehler, meldet Einkommen zumindest formell nicht richtig, und bleibt streitbar bis an die Grenze des Querulatorischen. So entstand eine explosive Mischung. Das Protokoll einer Eskalation:

Erster Akt: Als Kündigs Frau im Frühling 2001 ein Kind bekommt, kürzt die Gemeinde die Mutterschaftsbeiträge um 1'000 Franken pro Monat. Grund: Das Sozialamt sei aufgrund des Kontakts mit den Eheleuten zur Überzeugung gelangt, dass Kündig Einkommen nicht deklariere. Gezeichnet ist der Brief «Albert Etter, Gemeindepräsident». Belegen kann es die Gemeinde aber nicht und unterliegt so vor dem St. Galler Versicherungsgericht. Das Mutterschaftsgeld dürfe nicht wegen eines nicht bewiesenen Einkommens gekürzt werden.

Zweiter Akt: Die Eheleute haben im Frühling 2004 Probleme mit Kündigs Sohn, der nach dem Tod seiner Mutter bei seinem Vater und dessen neuer Ehefrau lebt. Albert Etter, Präsident der Vormundschaftsbehörde der Gemeinde Wittenbach, entzieht dem Vater mit Präsidialverfügung die Obhut und bringt den damals 13-jährigen Sohn in einem Heim unter. Auch dagegen klagt Kündig mit Erfolg: Etter muss seine Verfügung widerrufen.

Dritter Akt: Im Juli 2005 lehnt der Gemeinderat Wittenbach Kündigs Gesuch um Baubewilligung für eine Parabolantenne aus orts- und landschaftsschützerischen Überlegungen ab; gezeichnet «Albert Etter, Gemeindepräsident». Auch dagegen kämpft Kündig erfolgreich vor Gericht. Das St. Galler Baudepartement weist die Gemeinde an, die Baubewilligung zu erteilen. Die Antenne verunstalte die schmucklose Architektur des Hochhauses nicht.

Vierter Akt: Im Jahr 2005 arbeitet Kündig bei der Stiftung Business House, die Ausgesteuerten Arbeit anbietet, dafür von den Gemeinden einen gewissen Beitrag erhält. Ende August stellt Wittenbach die Zahlungen für Kündig ein. Er habe sich zu wenig um eine Arbeitsstelle bemüht. Kündig wird entlassen und erreicht so die Anzahl Beitragsmonate nicht, die ihn zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern berechtigen würden.

Fünfter Akt: Die Gemeinde kürzt Kündig Sozialhilfeleistungen, weil er zu viel Sozialhilfe bezogen habe. Der Rekurs dagegen ist noch hängig.

Sechster Akt: Die Gemeinde reicht gegen Kündig Strafanzeige wegen wiederholten Leistungsbetrugs ein.

«Hinter alldem steht Gemeindepräsident Etter», sagt Kündig. «Er will mich aus der Gemeinde rausekeln.»

Das sei eine Unterstellung, entgegnet Albert Etter. «Ich führe keinen Rachefeldzug. Herr Kündig ist für mich ein Bürger wie jeder andere auch.» Die Strafanzeige stütze sich auf eine Fülle von beweisbaren Tatsachen und sei völlig berechtigt. «Im Interesse der Steuerzahler müssen wir einen solchen Fall der Polizei melden.»

Vielleicht finden die verkeilten Streithähne erst Ruhe, wenn Kündig die Gemeinde verlässt. «Wenn meine Frau ihre Ausbildung abgeschlossen hat, ziehe ich hier sofort weg», sagt er. Irgendwann hat sogar ein Kündig genug.

Quelle: Daniel Ammann