«Kafkaesk, absolut kafkaesk.» Der Solothurner Arzt Willi Forster findet für das Vorgehen von Santésuisse kaum Worte. Santésuisse, der Dachverband aller Schweizer Krankenversicherer, «dieser stalinistische Beamtenapparat», hat über zehn Jahre hinweg sieben Verfahren gegen seine Praxis eingeleitet. Santésuisse wirft Forster vor, er wende für den einzelnen Patienten zu viel Zeit auf und verursache dadurch zu hohe Kosten. Um Forster zur Zahlung zu zwingen, klagte Santésuisse den Arzt ein. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat nun die Rückforderung über 1'392'000 Franken wegen «Überarztung» in den Jahren 1994 bis 2002 gutgeheissen.

In der Forderung eingeschlossen sind Medikamente, die Forster verordnet hat. Im Klartext: Der Arzt muss sogar die Einnahmen der Apotheker aus der eigenen Tasche zurückzahlen. So will es ein neues Grundsatzurteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts. Denn die Wirtschaftlichkeit einer Praxis, sagt das Gericht, beschränke sich nicht allein auf die ärztlich erbrachten Leistungen, sondern schliesse die Kosten für veranlasste Analysen und Therapien sowie Medikamente mit ein.

Forster hatte bereits Anfang der achtziger Jahre von sich reden gemacht, als er – in Zusammenarbeit mit dem Solothurner Sanitätsdepartement und dem Sozialpsychiatrischen Dienst der Universität Zürich unter der Leitung von Ambros Uchtenhagen – im Kanton Solothurn Methadonprogramme einführte. Seither wird Forsters Praxis vermehrt von Langzeitkranken aufgesucht. Heute sind 60 Prozent seiner Patienten in psychotherapeutischer und psychosozialer Behandlung, 12 Prozent sind Suchtkranke. «Nicht der Arzt bestimmt die Kosten, sondern der Therapiebedarf», so Forster. Für die vielfältigen Aufgaben seiner psychosozialen Praxis könne nicht der gleiche finanzielle Rahmen gelten wie für eine normale Allgemeinpraxis, sagt er.

Sein Engagement kommt ihn teuer zu stehen. Von 1993 bis 2002 lag das steuerbare Einkommen des 60-Jährigen bei durchschnittlich 121'000 Franken im Jahr. «Von Abzocken kann keine Rede sein», sagt Forster. Durch die Prozesse, die Santésuisse gegen ihn geführt hat, sind die Gelder der zweiten Säule «im Eimer». Entgegen seinem Rechtsempfinden und um den Konkurs abzuwenden, willigte Forster im Januar 2004 in einen Vergleich ein.

Durch sein Einlenken reduziert sich seine Schuld auf 696'000 Franken, zahlbar in Raten bis spätestens 2013. Dann ist Forster 70. Falls er seine Tätigkeit als frei praktizierender Arzt «definitiv» einstellt und sich auch nicht als Partner, Teilhaber oder Mitarbeiter einer Arztpraxis engagieren lässt, werden ihm die Zahlungen erlassen. Das Gericht sprach von einer «grosszügigen Lösung», für Forster kommt der «Kniefall» einem «Berufsverbot» gleich. Und die Leidtragenden sind die Patienten.

Unter ihnen Heinz Wagner aus dem Niederamt. Seit mehr als zwölf Jahren ist der Chronischkranke beim Oltner Allgemeinpraktiker und grünen Politiker Cyrill Jeger in Behandlung. «Ohne ihn würde ich wohl kaum mehr leben», ist er überzeugt. Dass Santésuisse Aargau-Solothurn ausgerechnet Jeger zur Kasse bittet und von ihm für die Jahre 1998 und 1999 gerichtlich rund 300'000 Franken wegen angeblicher «Überarztung» zurückfordert, bezeichnet der 41-jährige Langzeitpatient als «ungeheuerlich».

Jeger nimmt sich Zeit für seine Patienten, darunter Drogenabhängige, Suchtkranke, Menschen mit psychischen Problemen, HIV-Kranke und Asylbewerber. Er spricht fünf Sprachen und kann Fähigkeitsausweise in psychosomatischer und psychosozialer Medizin, manueller Medizin, Akupunktur und medizinischer Hypnose vorweisen. 200'000 der zurückgeforderten 300'000 Franken entfallen auf Rezepte für Medikamente.

Jeger fühlt sich als Arzt in erster Linie dem hippokratischen Eid verpflichtet und schlug einen Vergleich mit Santésuisse aus. Nun liegt sein Fall beim Eidgenössischen Versicherungsgericht. «Falls dieses Gericht – wie schon zu oft – den Krankenkassen Recht gibt, bin ich zum Konkurs und zum Auswandern gezwungen», sagt er. Pikantes Detail: Seit Santésuisse im Jahr 2000 den Arzt einer anderen Vergleichsgruppe zuordnete, hat sich die Wirtschaftlichkeit seiner Praxis verbessert. Jegers Kosten liegen unter den Durchschnittskosten der Gruppe. Bloss: «An meiner Arbeitsweise hat sich nichts geändert», versichert er.

Um seinen Forderungen Gehör zu verschaffen, gründete Jeger Consano, einen unabhängigen Verein für eine «faire und soziale Medizin in der Schweiz». Er ruft betroffene Kolleginnen und Kollegen zur Solidarität auf und zum Kampf für eine garantierte Grundversorgung. Vor kurzem reichte Consano eine Aufsichtsbeschwerde gegen das Bundesamt für Sozialversicherung ein «wegen ungenügender Aufsicht betreffend zerstörerischer Rückforderungen». Consano fordert, dass unabhängige Instanzen die Kostenkontrolle durchführen, das Bundesamt für Gesundheit oder das Bundesamt für Sozialversicherung beispielsweise. Zudem müsse ein neues Berechnungssystem ausgearbeitet werden, das spezifische Weiterbildungen und Praxisbesonderheiten angemessen berücksichtigt.

Strafanzeigen und Haftpflichtklagen
In der Pipeline ist eine Strafanzeige gegen Santésuisse wegen Nötigung. Geraten Hausärzte durch drohende Rückzahlungen an Santésuisse unter Druck, besteht die Gefahr, dass sie nicht mehr medizinisch korrekt, sondern statistisch vertretbar handeln. Geben sie notwendige Medikamente nicht mehr ab, um ihre eigene Haut zu retten, ist mit Haftpflichtklagen von geschädigten Patienten gegen Ärzte zu rechnen.

Die Themen «Überarztung» und Rückerstattung will auch die grüne Nationalrätin Franziska Teuscher in der nächsten Session auf den Tisch bringen: In einer Interpellation zur Sicherstellung der ärztlichen Grundversorgung will sie wissen, «wie die zurückgeforderten Gelder zugunsten der Prämienzahlerinnen und Prämienzahler angelegt oder eingesetzt» wurden.

Pro Jahr werden 500 Ärzte verwarnt
Jährlich geraten 500 der 15'000 Arztpraxen in die (Ab-)Schusslinie von Santésuisse. Der Verband beruft sich bei seinen Sanktionen auf eine Regelung im Krankenversicherungsgesetz, wonach jeder Arzt seine Leistungen auf ein Mass beschränken muss, «das im Interesse der Versicherten liegt und für den Behandlungszweck erforderlich ist». Als Mass gilt die so genannte Rechnungsstellerstatistik: Ärzte, die in ihrer Vergleichsgruppe mit weiteren Ärzten pro Patient mehr Zeit aufwenden, als die Statistik vorsieht, werden zuerst schriftlich gemassregelt. Gegen etwa 100 Ärzte werden Rückforderungen erhoben. Gerichtsfälle seien selten, erklärt Peter Marbet, Leiter der Abteilung Politik und Kommunikation von Santésuisse: «Wir bemühen uns um eine aussergerichtliche Lösung.» In den letzten fünf Jahren seien insgesamt 20 Millionen Franken in die Kassen der Krankenversicherer zurückgeflossen, wodurch die Prämien weniger stark ansteigen würden.

In der Strategie von Santésuisse sieht der auf «Überarztung» spezialisierte Rechtsanwalt Dieter Daubitz aus Luzern eine «versteckte Rationierung», die zur «Fliessbandmedizin» führe – auf Kosten der Patienten. Er gründete vor sieben Jahren die «Schutzgemeinschaft für Ärzte» und vertrat bislang rund 320 Betroffene in Sachen Rückforderungen. Der Grossteil der Fälle werde «wie auf einem arabischen Teppichmarkt» mit einem Vergleich geregelt. Wer sich auf zeitintensive, sprich: teure Patienten konzentriere, sei «auf verlorenem Posten» und manövriere sich in den Ruin. Entweder schaffe man sich mit «Verdünnungspatienten» einen Ausgleich oder weise teures «Patientengut» an Spezialisten weiter. Den Vorwurf, Santésuisse treibe Ärzte in den Ruin, weist Peter Marbet zurück: «Gerade mit der Vergleichsofferte ist der Ruin zu umgehen.» Santésuisse wolle nicht «möglichst viel Geld» von den Ärzten zurückholen, sondern ihnen «den Spiegel vorhalten» und dadurch «das Kostenbewusstsein schärfen».