Die Kirchenglocken in Marbach SG schlagen 17 Uhr. Willi Kellers Blick fällt auf die Holzbalken, die vor seinem Atelier in der Wiese liegen. «Die müssen noch in die Scheune», denkt er und eilt hinaus. In der Scheune stellt der Kunstmaler die Leiter auf, steigt hoch. Es ist 17.20 Uhr, als Keller den dritten Balken auf den oberen Scheunenboden legt. Dann knallt es, und Keller verliert das Bewusstsein.

Es ist 17.50 Uhr, als er wieder zu sich kommt. Willi Keller schwankt. In der Dunkelheit ertastet er die Tür zu seinem Atelier, öffnet sie. Starker Schwindel, er sieht alles doppelt, weiss nicht, was passiert ist - Gedächtnisverlust! Erst viel später wird ihm klar werden, was an jenem 12. Oktober 2000 geschah.

Nach dem Sturz packt Keller die Angst. Seine Partnerin bringt ihn in die Notfallstation des Spitals Altstätten. Von dort wird er umgehend ins Kantonsspital St. Gallen verlegt: «Verdacht auf Hirnstamminfarkt», halten die Ärzte im Überweisungsbericht fest. Mit anderen Worten: Ein Blutgefäss in seinem Kopf soll geplatzt oder verstopft sein.
In St. Gallen testen die Ärzte zuerst seine Reflexe - «es war alles in Ordnung», erinnert sich der heute 63-jährige Keller, kein Hinweis auf einen Hirnstamminfarkt. Keller, der zu diesem Zeitpunkt immer noch doppelt sieht, wird stationär aufgenommen und systematisch durchleuchtet. Es folgen innerhalb von fünf Tagen zwei Computertomographien, eine Kernspintomographie, ein 24-Stunden-EKG und zwei Echokardiographien vom Herzen, ein Duplex-Ultraschall der Blutgefässe, Tests mit Kontrastmitteln. Ein riesiger Aufwand, doch wiederum: keine Spur eines Hirnstamminfarkts!

Plötzlich kam Licht ins Dunkel
Trotzdem hält Chefärztin Barbara Tettenborn von der Neurologischen Abteilung des Kantonsspitals St. Gallen im Austrittsbericht fest: Als Ursache der Doppelbilder und des Bewusstseinsverlusts sei ein Hirnstamminfarkt anzunehmen. Nach einer Woche wird Keller entlassen. Zu Hause, in der Scheune, sieht er die Leiter. «Sie lag quer auf dem Boden, doch ich dachte mir nichts dabei. Ich stellte sie auf.» Noch immer liegen Holzbalken herum. Ein Nachbar hilft Keller, sie wegzuräumen, steigt die Leiter hinauf - und stürzt mit ihr zu Boden. Zum Glück verletzt er sich nicht. «Wir standen wie gelähmt da», sagt Keller.

In diesem Augenblick wird ihm klar, was ihm zugestossen war. Seine Brille, die am Boden gelegen hatte, die unerklärlichen Schmerzen in Schulter, Brust und Hals. Und der neu eingebaute, glatt gehobelte Boden. «Die Leiter, seit Jahren im Einsatz, rutschte plötzlich weg!», fährt es Keller durch den Kopf - und plötzlich macht alles Sinn. «Ich fiel rückwärts auf den Boden, mit dem Rücken direkt auf den Balken. Durch die Wucht des Aufschlags wurde der Kopf nach hinten geschleudert, und ich verlor das Bewusstsein.»

In den folgenden Wochen rekonstruiert er den Unfallhergang. Das Hirn hatte durch die Aufprallkräfte den Nerv gequetscht, der die Augenmuskeln steuert: Deshalb sah er doppelt. Diese sogenannte Trochlearisparese kommt bei Autounfällen und Stürzen im Haushalt immer wieder vor und ist in der Medizin bestens bekannt. Die Doppelbilder verschwinden meist wieder vollständig, bei Keller nach drei Monaten. «Für mich stand fest: Ich hatte gar keinen Hirnstamminfarkt erlitten. Es war der Sturz von der Leiter, also ein Unfall, der zur Bewusstlosigkeit und den Doppelbildern führte.»

Der Kampfgeist war geweckt
Erleichtert teilt er Chefärztin Barbara Tettenborn vom Kantonsspital St. Gallen den medizinischen Irrtum mit und bittet sie, die Diagnose zu ändern. Doch diese unterstellt dem arglosen Keller, sich Versicherungsleistungen erschleichen zu wollen: «Auch wenn für Sie aus versicherungstechnischen Gründen eine Änderung der Diagnose wünschenswert wäre, müssen wir Ärzte uns trotzdem an die medizinischen Fakten und Untersuchungsbefunde halten und sehen daher derzeit keinen Anlass, die damals gestellte Diagnose eines Hirnstamminfarktes zu ändern.»

Ein Vorwurf, den Keller nicht auf sich sitzen lassen will. Er hat weder einen bleibenden gesundheitlichen noch einen beträchtlichen finanziellen Schaden erlitten und fordert auch keinen Schadenersatz. Ihm geht es nicht um Geld, ihm geht es um die Wahrheit. Diese Motivation hat Barbara Tettenborn verkannt - Kellers Kampfgeist ist geweckt, das Thema lässt ihm keine Ruhe mehr; er beginnt, akribisch zu recherchieren und sich zu dokumentieren. Mittlerweile hat Willi Keller sogar eine eigene Homepage zu seinem Fall aufgeschaltet (www.fehldiagnose.ch).

Beweise für einen Infarkt hatten Tettenborns Untersuchungen im Kantonsspital St. Gallen nicht gebracht. Das scheint die Chefärztin selbst auch zu wissen, und sie beginnt, mit Keller um die Diagnose zu feilschen. Sie erklärt sich bereit, diese umzuformulieren in: «Doppelbilder bei Verdacht auf Hirnstamminfarkt» - so wird der Infarkt plötzlich nur zur vagen Vermutung, soll aber immer noch für den Sturz von der Leiter verantwortlich sein.

Die Chefärztin hält zudem weiterhin daran fest, dass der Infarkt die Doppelbilder ausgelöst haben soll. Doch auch dagegen spricht vieles: «Ich kenne die Details nicht, und vielleicht hatten die Ärzte Gründe, einen Hirnstamminfarkt anzunehmen. Doch Doppelbilder sind kaum je durch einen Infarkt zu erklären, sofern keine Zusatzsymptome vorliegen», erklärt dazu Matthias Sturzenegger, stellvertretender Chefarzt der Neurologischen Abteilung des Inselspitals Bern. Für Keller ist der Fall klar: Die Doppelbilder sind auf den Sturz und das leichte Schädel-Hirn-Trauma zurückzuführen.

Chefärztin Tettenborn will auf Anfrage des Beobachters zu den Vorwürfen nicht Stellung nehmen. Bei der Untersuchung seien «alle medizinisch notwendigen Aspekte» berücksichtigt worden.

Abwehrmanöver der Versicherung
Keller stört, dass wegen der offensichtlichen Fehldiagnose die Krankenkasse Helsana die Kosten übernehmen muss und nicht die Zürich-Versicherung, bei der er gegen Unfälle versichert ist. Er fordert die «Zürich» auf, die Kosten der Behandlung zu übernehmen. Doch die Versicherung lehnt ab - und startet ein Abwehrmanöver: Eine Sachbearbeiterin bespricht sich mit Professor Ralf Baumgartner, der als leitender Arzt der Neurologie des Universitätsspitals Zürich Gutachten für Versicherungen und Gerichte erstellt. Und sie schustert einzelne Sätze aus der Unfallmeldung und dem Austrittsbericht des Spitals zusammen. Um dann mit beinahe ärztlicher Selbstverständlichkeit zu behaupten: «Es muss davon ausgegangen werden, dass die Doppelbilder bereits vor dem Sturz vorhanden gewesen sind.»

Nicht genug: Die Sachbearbeiterin erwähnt nur ein «schweres» Schädel-Hirn-Trauma, das Ursache für Doppelbilder sein könne. Dass auch «leichte» Traumen dafür verantwortlich sein können, verschweigt sie und behauptet im Folgesatz: «Beim Patienten werden keine zusätzlichen Kopfverletzungen oder sonstige Beschwerden beschrieben.» Will heissen: Keller hatte kein schweres Schädel-Hirn-Trauma, er stürzte wegen eines Infarkts von der Leiter, deshalb muss die Krankenkasse die Kosten übernehmen. Bestürzend ist, dass Professor Baumgartner das Papier unterschreibt.

Drei verschobene Halswirbel
Ein Steilpass für die Versicherungsgerichte: Zuerst bezieht sich das Kantonale Versicherungsgericht St. Gallen auf das professorale Gutachten und schmettert Kellers Beschwerde ab. Dann stützt sich auch das Eidgenössische Versicherungsgericht in seinem Urteil vom 30. November 2004 auf das zweifelhafte Papier und hält fest: Baumgartner habe «überzeugend darauf hingewiesen, dass Doppelbilder nur durch eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung traumatisch verursacht werden können». Keller habe «keine für eine Schädel-Hirn-Verletzung signifikanten Kopfverletzungen erlitten».

Die Gerichte seien dieser «Schummelei» voll aufgesessen, ärgert sich Keller. Die «Zürich» lehnt es auf Anfrage des Beobachters «aus Diskretionsgründen» ab, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Für sie ist mit dem Richterspruch die Unfallhaftung vom Tisch. Die Versicherungsgerichte behaupten später, Verletzungen seien keine nachgewiesen worden. Dabei bluteten laut Keller seine Wunden an Schulter und Gesäss so stark, dass im Spital täglich die Leintücher gewechselt werden mussten. Erst später zeigten sich im hausärztlichen Röntgenbild drei seitlich markant verschobene Halswirbel, die Keller richten lassen musste.

Einen Augenschein am Unfallort und eine Zeugenbefragung lehnten die Gerichte ab, da dies «keine neuen Erkenntnisse» bringe. Keller stellt heute ernüchtert fest: «Die Elite von Recht und Wissenschaft, also Versicherungen, Bundesrichter und Chefärzte, haben nicht nur medizinische Fakten verdreht. Sie halten bis heute an einer unglaublichen Fehldiagnose fest.»

Quelle: Daniel Ammann