Mein Freund und ich wussten nicht so recht, worauf wir bei der Besichtigung der Krippe achten mussten. Schliesslich war ich damals erst schwanger. Als wir in dem Neubau standen, in dem seit einigen Wochen Kinder herumturnten, wurde aber schnell klar: Da ist etwas schiefgelaufen.

Die Wände aus Sichtbeton sahen zwar gut aus, doch die Ecken waren so scharf, dass Platzwunden programmiert waren. Das sahen wir auf den ersten Blick – auch ohne Kinder.

Die Krippenleitung wies uns im Bad dann auch gleich auf den nächsten Planungsfehler hin. Hier waren saloonartige Schwingtüren eingebaut, die die Kinder selbst aufstossen konnten. Nur waren die Türflügel so schwer, dass sie die kleinen Knirpse beim Zurückschwingen umwarfen.

In der Krippe hat man sich inzwischen damit arrangiert. Doch bei mir ist die Frage hängengeblieben, wie solche Fehler überhaupt passieren können. Ist es wirklich so schwer, sich im Voraus vorzustellen, dass in einer Kinderkrippe Kinder spielen?

Ohne Fehler kein Fortschritt

Im zuständigen Architekturbüro werde ich mit meiner Frage abgeblockt und an die Bauherrin verwiesen. Auch dort will niemand mit mir über die Fehler reden. Doch mein Interesse ist geweckt.

Denn auch wenn ich noch nie selbst ein Haus gebaut oder umgebaut habe, habe ich mir schon oft an den Kopf gefasst, wenn irgendwo ein Kühlschrank in die falsche Richtung aufging, in einer Bahnunterführung alle ausrutschten, wenn es regnete, oder wenn ich neben einer automatischen Tür die Warnung las, dass sie mir mit Schwung entgegenspringt. Nun will ich wissen, wie es zu solchen Fehlern kommt.

In meinem Gemeinschaftsbüro arbeiten auch mehrere Architektinnen und Architekten. Hier finde ich die erste und wohl wichtigste Erklärung. «Als Architekt entwirfst du Prototypen», erklärt mir ein Bürokollege.

Manches, etwa die verwendeten Materialien, könne man zwar testen. Doch anders als bei Produkten aus industrieller Massenproduktion, wo erst ein Prototyp entworfen, ausprobiert und verbessert wird, werde ein Gebäude letztlich ab Plan gebaut, inklusive möglicher Fehler.

«Wir Architekten möchten nicht bloss Bewährtes reproduzieren, sondern neue sinnliche und räumliche Erfahrungen ermöglichen. Und da beginnt es mit den Fehlern», fährt der Kollege fort.

Türschloss

Die Aussparung hilft, wenn das Schloss zu nah an der Wand ist.

Quelle: Till Forrer

Ich verstehe: Wenn man immer die gleichen Reihenhäuser mit demselben Grundriss und den gleichen Plättli im Bad bauen würde, gäbe es weniger Baumängel. Doch zum Glück probieren Architekten und Architektinnen Neues aus und riskieren damit, dass etwas nicht so herauskommt, wie sie sich das vorgestellt haben.

Brutal ist nur, dass ihre Fehler in Stein gemeisselt oder in Beton gegossen werden, so dass wir uns täglich daran ergötzen können. Denn Hand aufs Herz: Wer hat sich nicht schon prächtig über diese Bilder amüsiert, die man im Internet unter «Pfusch am Bau» oder «Lustige Architekturfails» findet?

Über die Treppe, die ins Nichts führt, über den Balkon ohne Boden, den Wasserhahn, der direkt über der Steckdose montiert ist oder dessen Strahl es nie ins Becken schafft. Mit purer Schadenfreude klicke ich mich durch diese Bilder. Und denke bei jedem Klick: Wie kann jemand nur so doof sein?

Auf meiner Spurensuche frage ich mich bald einmal, was es über mich aussagt, dass ich mich auf dieses Thema stürze. Und ob die interessantere Frage nicht lautet, weshalb es nicht mehr von diesen Fehlern gibt. Denn das ist die zweite Lektion, die ich lerne: Bauen ist unglaublich komplex und bietet unzählige Gelegenheiten, dass etwas schiefgeht.

Pure Schlamperei

In der langen Kette vom Planungsbüro bis zur Baustelle kommt wie beim Telefonspiel am Ende manchmal etwas anderes an. So zeigt mir ein Architekt das Bild einer Wolke, die eigentlich eine Änderung auf einem Plan markieren sollte, am Ende aber in Beton gefräst wurde. Ob das Ganze ein Fake ist, bleibt unklar.

Wahr ist dagegen die Geschichte eines Bekannten: Ein Bauarbeiter nahm in dessen Haus dummerweise die falsche Wand heraus, weil er den Plan verkehrt herum gehalten hatte.

Hinter manchen Fehlern steckt pure Schlamperei. Ein verrücktes Beispiel zeigt mir der Schlosser Rolf Baumann in einem Hof in Zürich. Er musste hier ein Balkongeländer aufstocken und merkte bei der Arbeit, dass das Geländer zuvor nur teilweise mit dem Unterbau verbunden war.

Einige Schraubenlöcher des Aufbaus waren falsch gebohrt und passten nicht zu den Löchern im Unterbau. «Statt alles neu zu bohren, sägte jemand einfach die Schraubenköpfe ab und leimte sie als Attrappe an», sagt Baumann. «Wer weiss, vielleicht wollte da jemand einfach rasch in den Feierabend.»

Er zeigt mir eine Tür direkt unter dem Balkon. Sie ist in eine Ecke gebaut, an der Wand neben der Tür gibt es eine merkwürdige, aber hübsch verkleidete Aussparung. Hier war das Türschloss so nah an der vorstehenden Wand, dass man mit dem Schlüssel gar nicht recht dazukam.

Also wurde nach dem Prinzip «Was nicht passt, wird passend gemacht» kurzerhand ein Stück der Wand rausgeschlagen. Ohne die Erklärung des Schlossers hätte ich diesen Fehler bestimmt übersehen.

Was ist richtig, was ist falsch?

Bei Thomas Friberg, Partner von pool Architekten, lerne ich meine dritte Lektion: dass es oft komplizierter ist, als es auf den ersten Blick scheint. Und dass manche Fehler gar keine sind. Wir schauen uns das Beispiel der automatischen Schwingtür beim Zürcher Kulturhaus Kosmos an, die erst mit einem Warnhinweis ausgestattet und dann durch eine Schiebetür ersetzt wurde – ein «Fehler», der nicht aus dem Büro pool kommt.

Ich verstehe, dass es hier um den barrierefreien Zugang zum Gebäude geht. Aber ich verstehe nicht, weshalb die Schiebetür nicht von Anfang an gewählt wurde. Auch die Schiebetür sei nicht unbedingt die optimale Lösung, erklärt Friberg.

Wenn die Elektronik nicht mehr funktioniert, geht gar nichts mehr, während man die automatische Schwingtür auch von Hand aufstossen kann. All diese Überlegungen sehe ich als Nutzerin nicht. Ich ärgere mich einfach, wenn etwas unpraktisch ist.

Thomas Friberg sagt dazu: «Was für die eine Person ein Fehler ist, ist manchmal für eine andere gerade richtig.» Er nennt ein Beispiel: Bei Behinderten-WCs wünschen sich manche Menschen im Rollstuhl das Lavabo direkt neben dem WC, damit sie sich daran hochziehen können.

Jemandem, der beim Toilettengang begleitet wird, steht dieses Lavabo dann gerade im Weg. So steckten hinter vermeintlichen Fehlern oft auch Konventionen, sagt Thomas Friberg. In England etwa gehen Schlafzimmertüren oft nicht zur Wand, sondern zum Raum hin auf, so dass der Raum dahinter verborgen bleibt und wir ihn erst beim Betreten des Zimmers sehen.

Ich erinnere mich, wie ich bei einem Freund, der sein Haus selbst umgebaut hatte, einmal anmerkte, dass er heiss und kalt beim Wasserhahn vertauscht hatte. «Wer sagt denn, was richtig und was falsch ist?», fragte er erstaunt. Ich lernte: Unflexibel ist nicht nur das Gebaute, auch wir sind es, die uns darin bewegen.

Ohne Fehler keine Fragen

Auf meiner Suche stosse ich auf immer mehr solcher «Baufehler», die eine Irritation in unserem routinierten Alltag darstellen: die WC-Tür bei einem Freund, die man nur von aussen verriegeln kann. Eine andere Tür wird beim Öffnen von einem Pfosten blockiert.

Oder die Treppe hinauf zum Haupteingang des Zürcher Toni-Areals, bei der das Trittverhältnis so schlecht ist, dass man auf ihr mindestens dreimal den Schrittrhythmus wechselt. «Alle, die oben ankommen, sprechen über diese Treppe», sagt meine Freundin Carina, die im Gebäude arbeitet.

Sie liebt es, die Leute bei ihrem Gang auf der Treppe zu beobachten. Und fragt sich, ob diese Stufen zur Zürcher Hochschule der Künste vielleicht bewusst so geplant wurden.  

Ich lasse die Frage offen und gehe einem Fehler nach, der so merkwürdig ist, dass ich dahinter einen Witz vermute. Ein Freund schickt mir ein Foto aus der Männertoilette der Zürcher Bar Damm. Hier sind zwei Urinale so ins Eck gebaut, dass wohl kaum zwei Männer gleichzeitig pinkeln würden – es sei denn, sie suchen Pokontakt.

Zwei ins Eck gebaute Urinale

Synchronpinkeln schwer gemacht: zwei eigensinnig montierte Urinale in einer Bar

Quelle: Till Forrer

Tim Hartje, der Besitzer der Bar, vermutet, dass die Pinkelbecken so eingebaut wurden, weil es anders schlicht nicht ging. Der gelernte Schreiner ist nachsichtig und hält die Konstruktion auch gar nicht für einen Fehler. Im Gegenteil. Wenn Urinale in einer Reihe stünden, sei man sich oft auch sehr nah. «Po an Po kann man immerhin nicht rüberschauen», sagt er und lacht.

Inzwischen habe ich mich in die kleinen Baufehler schon fast ein wenig verliebt. Denn diese Stolpersteine im Alltag machen mir erst deutlich, was für eine Kunst das Bauen ist. Und sie zwingen mich, Selbstverständliches zu überdenken. Und so frage ich mich am Ende auch, ob die scharfen Kanten in der Krippe überhaupt ein grober Fehler sind.

«Kinder müssen schliesslich lernen, sich in einer Welt zu bewegen, die nicht für ihre Grösse gebaut ist», sagt ein Architekt in meinem Büro. Vielleicht hat er recht. Und vielleicht ist es auch kein Fehler, dass das Architekturbüro, das die scharfen Kanten geplant hat, von der Stadt Zürich einen Preis für gute Bauten erhalten hat.

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