Südtirol zeigt sich meist als reizvolle Mischung aus Italien und Österreich. Wer vom Ofenpass in den Vinschgau reist, fährt durch das malerische Glurns, italienisch Glorenza. Wie nett, mag der ahnungslose Tourist denken: alltägliche, traditionelle Zweisprachigkeit.

Doch die Geschichte Glorenzas reicht nicht weit zurück. Der italienische Nationalist Ettore Tolomei hatte sich den Namen ausgedacht. Er sah es Anfang des 20. Jahrhunderts als seine Mission, das seit über 500 Jahren zum Habsburgerreich gehörende Südtirol «heimzuholen». Um den Anspruch zu untermauern, erfand er Tausende italienische Orts- und Flurnamen für die Region.

Zwischen Mussolini und Hitler

1919 fiel Südtirol tatsächlich Italien zu – die Alliierten hatten das Gebiet Rom für den Kriegseintritt an ihrer Seite versprochen. Unter Mussolini schliesslich begann eine brutale Italianisierungspolitik, und so wurde aus Glurns plötzlich Glorenza. Erst als Nazideutschland 1943 Norditalien besetzte, waren die deutschen Namen wieder erlaubt. An den nunmehr zweisprachigen Ortsnamen sollte auch das Ende von Hitler und Mussolini nichts ändern.

Wer aus Österreich vom Reschenpass her anreist, passiert das Ossarium von Burgeis. Es ist eines von drei Beinhäusern des faschistischen Regimes; auch hier ging es um den Anspruch auf Südtirol. Mussolini liess sie errichten, um an die im Ersten Weltkrieg getöteten italienischen Soldaten zu erinnern. Bloss: Die hatten hier nie gekämpft, die Front verlief viel weiter südlich. Also wurden aus anderen Friedhöfen sterbliche Überreste beschafft. 

«Keiner war je im Süden Italiens, aber in den Augen aller ist es die Vorstufe zur Hölle.»

Lilli Gruber, TV-Journalistin

 

Portrait Lilli Gruber
Quelle: Getty Images

Der Historiker Rolf Steininger beschreibt in seiner lesenswerten Geschichte Südtirols, wie Mussolini die deutsche Sprache aus dem Gebiet, das nun Alto Adige (Oberetsch) hiess, verdrängen wollte. Er forcierte die Ansiedlung von Italienern. Italienisch wurde einzige Unterrichtssprache, deutsche Zeitungen wurden verboten, und im Gericht durften Anwälte untereinander nur italienisch sprechen. 

Carabinieri strichen das Wort «Südtirol» auf Ansichtskarten eigenhändig durch, Tiroler Knödel mussten Oberetscher Knödel heissen, und Gaststätten hatten deutsche Aufschriften vom Geschirr zu entfernen. So grotesk das scheint – es war ein erbitterter Kampf. Auf Betreiben des Priesters Michael Gamper entstanden Katakombenschulen: Junge Frauen unterrichteten Kinder in Privathäusern auf Deutsch – stets in Angst vor der Polizei. Den Lehrerinnen drohte Haft und Verbannung in den Süden Italiens.

Die Option spaltete die Gesellschaft

Noch schwieriger wurde die Lage, als sich Hitler und Mussolini 1939 auf eine «volkliche Flurbereinigung» einigten. Dabei hatten viele gehofft, dass Hitler Südtirol wie zuvor Österreich «heim ins Reich» holte. Stattdessen die «Option»: Die Südtiroler hatten sich innert zweier Monate für ein Land zu entscheiden. Wer für Deutschland optierte, sollte in ein noch unbekanntes Gebiet umgesiedelt werden. Wer bleiben wollte, musste sich gegen die deutsche Sprache und Kultur entscheiden. «Mit der Option begann das wohl leidvollste Kapitel Südtirols, das jahrzehntelang ein Tabuthema war und wohl immer ein schwieriges Thema bleiben wird», so Steininger.

Denn 86 Prozent entschieden sich für Hitler statt Mussolini. Die 213'000 Optanten oder Geher waren keineswegs alle Nazis. Wohl die meisten wählten das, was sie für das kleinere Übel hielten. Eine grosse Rolle spielte das von deutschen Behörden gestreute Gerücht, dass die «Dableiber» nach Sizilien umgesiedelt würden. «Es ist eine grauenhafte Vorstellung, irgendwo in einem abgelegenen Dorf im Süden Italiens zu landen: Keiner war je dort, aber in den Augen aller ist es die Vorstufe zur Hölle», schreibt die aus Südtirol stammende italienische TV-Journalistin Lilli Gruber in ihrem Bestseller «Das Erbe». Darin und in «Der Sturm» schildert sie eindringlich das Schicksal ihrer Familie von 1918 bis 1945.

Nichts hat Südtirol so entzweit wie die Option. Die Propaganda der Geher startete eine fanatische Hetze gegen die Dableiber. Ihre Geschäfte wurden boykottiert, es gab Brandanschläge und Prügel.

Opfer des Kalten Kriegs

Insgesamt 75'000 Optanten wanderten aus, obwohl ihr Ziel weiter unklar war – vorübergehend zogen die Nazis Burgund und die Krim in Betracht. Es zeigte sich aber, wie schwer es war, die Neuankömmlinge zunächst einmal im Deutschen Reich unterzubringen. Die Auswanderung kam ins Stocken.

Die Geher selbst und auch die italienischen Behörden, die keine entvölkerte Provinz wollten, zeigten ohnehin wenig Eile. Einerseits begann zwischen Berlin und Rom das Feilschen um die Entschädigung für die Immobilien der Auswanderer. Anderseits spielten die Bauern bei der Wertfeststellung ihrer Höfe auf Zeit – letztlich mit Erfolg. Aber hätte Hitler den Krieg gewonnen, wären die Optanten wohl verfrachtet worden. 

Das Kriegsende 1945 brachte keine Rückkehr nach Österreich. Die Siegermächte hatten daran kein Interesse: Blieb Südtirol italienisch, geriete es kaum in den sowjetischen Einflussbereich – was bei Österreich nicht so klar schien. «Südtirol wurde das erste Opfer des aufkommenden Kalten Kriegs», so Steininger. 

1946 schlossen Rom und Wien ein Autonomieabkommen für Südtirol. Allerdings zeigte sich, dass Italien diese Autonomie nicht nur für die Provinz Bozen, also Südtirol, vorsah, sondern auch für die Provinz Trient. Beide bildeten die neue Region Trentino-Alto Adige – dort war die italienische Bevölkerung in der Mehrheit. 

Umsiedler

Umsiedler auf dem Weg zur Bahnstation

Quelle: Ullstein Bild
Mit Terror zur Selbstbestimmung?

Die Spannungen wuchsen. Ab Mitte der fünfziger Jahre versuchten Südtiroler, die «Selbstbestimmung», also die Vereinigung mit Österreich, herbeizubomben. Die Attentatsserie erreichte ihren Höhepunkt 1961, als in einer Nacht 37 Hochspannungsmasten zerstört wurden. Später richteten sich die Anschläge auch gegen Menschen. Politisch war der Terror eher kontraproduktiv und führte dazu, dass eine Abspaltung von Italien keine Chance hatte. 

1972 übertrug ein neues Autonomiestatut etliche Kompetenzen von der Region auf die Provinz Bozen – für Südtirol ein Fortschritt. Allerdings verlief die Umsetzung weiter schleppend; ab 1978 begann eine neue Serie von Anschlägen. Das sollte letztlich jedoch nichts an der Politik der kleinen Schritte ändern. 

Italien und Österreich einigen sich

1960 hatte die Uno Italien und Österreich aufgefordert, ihren Streit über die Autonomie zu lösen. 1992 war es so weit: Rom und Wien erklärten ihn für beendet. Das heisst nicht, dass es nie mehr Irritationen gäbe. Aber Historiker Steininger zieht eine «eher positive Bilanz» seit 1945. Die Provinz habe einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, und «trotz der jahrzehntelangen Abtrennung von Österreich sprechen die Südtiroler ihre Sprache wie eh und je, leben ihr Leben und gehen ihren Gewohnheiten nach».

Heute wirkt die Lage stabil. Als die Regierung in Wien Ende 2017 in Aussicht stellte, Südtirolern auch den österreichischen Pass zu geben, löste das in Rom nur begrenzte Aufregung aus. Und in Bozen blieb Landeshauptmann Arno Kompatscher betont gelassen und wies darauf hin, dass es hier um Symbolpolitik geht – und nicht um eine Verschiebung der Grenzen.

Buchtipps
  • Rolf Steininger: «Südtirol: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart.» Haymon 2014.
     
  • Lilli Gruber: «Das Erbe: Die Geschichte meiner Südtiroler Familie.» Droemer 2013.
     
  • Lilli Gruber: «Der Sturm: Die Kriegsjahre meiner Südtiroler Familie.» Droemer 2016.

 

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Matthias Pflume, Leiter Extras
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