Was darfs denn sein? Ein Darmbad auf der Liege oder Bittersalz zum Einnehmen?» Der Fastennovizin Gina Hasler schlägt diese Frage gleich zum Auftakt der zehntägigen Heilfastenkur im eleganten Rittersaal von Schloss Steinegg mit Kronleuchter und Täfer gründlich auf den Magen.

Die profane Vorstellung, 45 Minuten lang einen Dauereinlauf mit Warmwasser aus einem 20-Liter-Behälter durch sich ergehen zu lassen, fällt in diesem gehobenen Ambiente ebenso schwer wie die Alternative, die Entleerung und Reinigung des Verdauungskanals mit Bittersalz-Wasser voranzutreiben und den Verlauf im stillen Kämmerlein auszusitzen.

Das Märchenschloss in der Abgeschiedenheit hoch über dem thurgauischen Hüttwilen strömt innerhalb seiner Mauern eine archaische Geborgenheit aus. Der Turm und der östliche Flügel sollen im Jahr 849 gebaut worden sein. Die heutige Symbiose aus Luxus und Askese zieht uneingeschränkt Sinnsuchende auf der Reise zu sich selbst an: ausgebrannte Manager, ernährungsbewusste Haus- und Berufsfrauen, gestresste Singles, übergewichtige Wohlstandswracks und ruhebedürftige Individualisten.

Erstfasterin Gina Hasler aus dem Oberaargau verlässt sich auf die Stimme aus der Höhle des Bauches und wählt zum Fastenauftakt das Darmbad, den Königsweg der Entschlackung. Damit ist die 52-jährige Marketingfachfrau in bester Gesellschaft. Eingeweihte schwören auf die wohltuende und heilsame Wirkung der massgefertigten Einlaufapparatur aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Tee gibts in allen Arten und Mengen


Dick und Dünn thronen hier seit Jahrzehnten auf der eigens konstruierten Liege mit Blick auf das polierte Oldtimer-Modell und lassen ihren Darm baumeln. Für die physische und psychische Unterstützung am stillen Örtchen bietet heute Frieda Mühlethaler Hand. Die gelernte Krankenschwester und Mutter dreier Kinder sieht sich während der Prozedur hauptsächlich «auf der menschlichen Ebene» gefordert. Natürlich sind wir im Darmbad alle gleich. So menschlich, allzu menschlich.

Nach überstandener «Initiation» sind sich die «Frischlinge» bei Tee und nochmals Tee im Salon dann einig: Das Darmbad ist durch nichts zu ersetzen. Und die anfängliche Skeptikerin Gina Hasler schwärmt von einem «befreienden Wohlgefühl» und wundert sich, keinerlei Hungergefühl mehr zu verspüren.

Bittersalz hin, Darmbad her: Über die Details schweigt der – übrigens ebenfalls mitfastenden – Schreiberin Höflichkeit. Hauptsache: Es hilft.

Fasten ist leichter gesagt als getan. Immerhin bekommen die Anwesenden sieben lange Tage keinen Bissen zwischen die Zähne und haben mit Zipperlein, Schwindel, Kopfweh oder Rückenschmerzen zu rechnen. Bange Fragen: Beginnt das Kribbeln im Kopf oder im Bauch? Bringt der freiwillige Nahrungsverzicht die körperlichen Leistungen auf Hochtouren oder zum Erliegen? Drückt die selbst auferlegte Askese auf die Nieren oder aufs Gemüt?

Gezielte Antwort: Tee trinken, nichts als Tee, und abwarten. Tee aus Brennnessel, Faulbaumrinde, Wacholderbeere, Bohnenschale, Holunder, Süssholzwurzel, Weissdornblüte, Schachtelhalm, Johanniskraut, Mistel, Attichwurzel, Birkenblatt, Petersilienwurzel, Rosmarin, Bärentraubenblatt, Weidenrinde, Löwenzahnkraut, Kakaoschale, Ringelblumenblüte, Benedikten-distel, Schafgarbe, Stiefmütterchenkraut, Hauhechelwurzel, Liebstöckelwurzel, Karkade, Anis oder Kardobenediktenkraut. Kurzum: Tee über alles. So ist das Fasten für alle gleich und für jede und jeden völlig anders.

Nur der Zimmergenosse darf


Als sich Brigitta Huber, 45, freiberufliche Werbeberaterin aus dem Zürcher Oberland, zum ersten Mal für eine Fastenkur auf Schloss Steinegg entschloss, machten ihr chronische Nierensteine das Leben schwer und zehrten neben dem beruflichen Stress an ihren Kräften. In dieser «Ruheoase» mit Blick über die Weite des lieblichen Thurgaus bis hin zum ewigen Schnee erholte sie sich zusehends und brachte wieder ihr Wohlfühlgewicht auf die Waage.

Diesmal hat sie sich vornehmlich um das leibliche Wohl ihres Begleiters und Zimmergenossen zu kümmern. Wenn sie einen Blick auf Kellys Vorrat auf dem Fenstersims wirft, macht sich Magenknurren bemerkbar. Schliesslich soll es dem vierjährigen Jack Russell Terrier während der zehn Tage im eigens für Hundehalter reservierten Zimmer an wirklich nichts fehlen. So hat Frauchen in einer Kühltasche Köstlichkeiten angeschleppt wie Hüttenkäse, Hirseflocken, Algenmehl, Thunfisch, frisches Fleisch, Kleie, Rüebli, Knoblauch, Markknochen, Olivenöl und Biskuits.

«Am Anfang fiel mir das Rüsten schwer», meint sie. Zu Hause stecke sie jeweils nach dem Schälen automatisch den Rest des Rüeblis in den Mund. Und Kelly? Der Kläffer hält seine Besitzerin mit den Zecken, die er im nahen Wald aufliest, auf Trab und lässt sich die Hundebiskuits in Knochenform schmecken, die Steinegg-Chauffeur und Hauswart René Niederberger selbst kreiert hat.

Die Waage im Gepäck des Ehepaars Badertscher aus Biel-Benken im Baselbiet deutet untrüglich darauf hin, dass es diesmal weder auf eine kulturgeschichtliche Weinreise mit Kostproben noch auf einen ausgelassenen Segeltörn geht. Zwar garantiert das Schlosshotel Steinegg für eine gediegene, altehrwürdige Atmosphäre in individuell ausgestatteten Gemächern mit so wohlklingenden Namen wie Siddharta, Mandala oder Cinderella. Der Speisezettel unter dem Motto «Modifiziertes Vitalfasten» hingegen ist ein Ausbund an Genügsamkeit: Wasser und Genusstee à discrétion, pro Medizinaltee zwei bis drei Tassen, ein Glas Saft nach Order des Hauses, zwei bis drei Tassen Gemüsebrühe, ein Portiönchen Honig gegen einen möglichen Fastenkoller.

Für C. F. Meyer gabs genug zu essen


Vor fünf Jahren sah sich der 73-jährige weit gereiste Ex-Manager Badertscher mit der Diagnose Prostatakrebs konfrontiert. Nach drei Operationen sei der Gesundheitszustand stabil. Allerdings habe er durch die Hormonbehandlung in drei Monaten fünf Kilo zugelegt. Das «akute Gewichtsproblem» wollten er und seine Frau in den Griff bekommen, ohne an Lebensqualität einbüssen zu müssen. Nach einer fünftägigen «Schnupperkur» auf Steinegg rüsten sich Badertschers für den Ernstfall.

Unterstützt von seiner stets gut gelaunten, ausgeglichenen Ehefrau, bringt der fundierte Weinkenner und Feinschmecker mit gepflegten und geschulten Sinnen die Teeschwemme mit geradezu ansteckender Gelassenheit hinter sich. «Das Hirn hat kapiert, dass es nichts zu essen gibt», sagt er. Basta! An seinem 73. Geburtstag kredenzt er seiner Frau am Mittagstisch im Rittersaal eine Zugabe aus der geschwungenen Suppenterrine und nimmt dankend ein Löffelchen Petersilie entgegen. Dann wischt er sich mit der Stoffserviette über den Mund, wie man es in einem guten Etablissement zu tun pflegt.

Der Textilkaufmann Paul Schaad aus Herzogenbuchsee setzt sich trotz anfänglichen Widerständen seiner Frau und der vier Töchter bereits zum vierten Mal allein zum Fasten auf Steinegg ab. «Ich fühle mich hier geborgen wie in einem Nest», meint der Geschäftsmann. Das Schloss strahle auf ihn die Energie eines «Kraftorts» aus, was in der alten Bibliothek mit Kachelofen und Butzenscheiben besonders intensiv zum Tragen komme. Von dieser Atmosphäre war schon der Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer angetan: Er fand hier – bei voller Kost und Logis notabene – 1878 die Inspiration zu seiner Novelle «Der Schuss von der Kanzel».

Schaad stiess kurz nach dem 60. Geburtstag während der Rekonvaleszenz nach einem geplatzten Blinddarm auf das «Nest». Bei Schonkost und Wanderungen in den umliegenden Wäldern erholte er sich von der einschneidenden Operation. Vorträge über die heilsame Wirkung des Fastens brachten ihn auf den Geschmack des freiwilligen Nahrungsverzichts. Im Schlosshof tankt er schon beim ersten Vogelgezwitscher Kraft und Energie. Die Natur schenke ihm so viel Nahrung für die Seele, dass es ihn nicht mehr in die Kirche ziehe. Steinegg hinterlässt auch in seinem Alltag ernährungstherapeutische Spuren: Jeden Morgen verköstigt sich Schaad mit einem auserlesenen Hausmannsmüesli.

Der 87-jährige Heinz F. Ehrensperger aus Zollikon kennt die Mödeli und Marotten der Steinegger Kurgäste seit 20 Jahren und lässt sich auch von noch so trüben Tassen nicht aus dem Konzept bringen. Die von der Kurleitung bestimmten Tafelrunden betrachtet er als Schicksalsgemeinschaft. Dass als «Ersatzhandlung» immer wieder das Thema Essen auf den Tisch kommt, goutiert der ehemalige Jurist mit einem Augenzwinkern. Die Begeisterung über den Besuch einer Schokoladenfabrik, einer Forellenzucht oder einer Diätbäckerei könne er mit seinen Leidensgenossinnen allerdings nicht teilen.

Die Sündenfälle hinterlassen Spuren


Er sieht sich als lebenden Beweis dafür, dass die selbstbestimmte Askese auch ältere Semester beflügelt, so sie noch bei Kräften und Sinnen sind. Er fühle sich jeweils nach der Kur «leicht, beschwingt und abgehoben», bisweilen sogar «geläutert». Dass der Hosenbund dann weniger spanne, sei eine ausgesprochen willkommene Nebenerscheinung.

Zählt man seine während der letzten 20 Jahre auf Steinegg verlorenen Kilos zusammen, hat Ehrensperger sein Lebendgewicht längst weggefastet.

«Mit den Diäten ist jetzt endgültig Schluss», sagt Barbara Häni, 46, aus Lauterbrunnen. Aus gesundheitlichen Gründen und «um den Kopf vom Alltagstrott zu befreien», lässt sie schon zum vierten Mal «diesen meditativen Ort» auf sich einwirken. Auch wenn sie seit der letzten Kur im November nicht abgenommen hat, gewann sie mit Unterstützung der Ernährungsberaterin die Freude am Essen zurück. Zudem habe sie gelernt, die Körpersignale zu deuten und ihnen nachzugehen. Diesmal spüre sie weder physische noch psychische Beschwerden, und nur gelegentlich überkomme sie der «Gränni», ein Heulanfall, wie etwa gestern, als im Radio der Lieblingssong ihres 18-jährigen Sohns ertönte, der noch bei ihr zu Hause lebt.

Hungerattacken haben schon die standfestesten Fastengäste in den Sündenfall getrieben. So fanden sich im Schranktresor eines Hotelzimmers nach der Abreise der Kundschaft eingetrocknete Spuren von aufgeschnittener Wurst und gekochten Eiern. Bei der Säuberung des Gebüschs unterhalb des Schlosshofs stiess die Räumungsequipe gar auf Pouletknochen, Alufolien, Weinflaschen und Quarkbecher. Und ein von Rheuma geplagter Patient soll sich den lindernden Kartoffelwickel, den ihm eine Angestellte auf das Zimmer gebracht hatte, nicht nur auf die schmerzende Stelle gelegt, sondern gleich ratzekahl einverleibt haben. In der Not frisst der Teufel Fliegen.

Der Esstisch hat sie wieder


Auf die viel besungene Leichtigkeit des Seins bahnt sich am Abend des siebten Tages die Landung an. Punkt sechs Uhr schlägt der Gong zum feierlichen Fastenbrechen. Neben dem Kernstück des Gedecks, einem rotbackigen Thurgauer Apfel, flackert eine weisse Kerze. Die gefächerte Stoffserviette ist rehabilitiert. Auf los gehts los: Ich esse, also bin ich. Dem Herrn seis geklagt: Biss um Biss rückt die Vertreibung aus dem Paradies näher. Der Mensch ist, was er isst, und das geht unwiderruflich den Lauf alles Irdischen. Auf Schloss Steinegg verflüchtigen sich so im Durchschnitt jährlich 6179 Kilo Lebendgewicht, wie die Statistik der letzten sechs Jahre zeigt.

Nur nicht essen ist schöner. Next year? Same time? Same place? Steinegg, wie es leibt und lebt.

Quelle: Stefan Jäggi