Thomas Reichlin liest den Berg wie andere Krimis. Oft kraxelt er dafür weit hinauf – auf der Suche nach Fossilien. 25 Millionen Jahre lang hat niemand die versteinerten Pflanzen und Tiere zu Gesicht bekommen. Der Rossberg bei Goldau hat sie konserviert: Ammoniten, Muscheln, die Spuren eines Nilpferds, die Sumpfzypresse. 1806, als der Berg kam, sind sie wieder an die Oberfläche gelangt. Fossile Bäume stehen eingeklemmt im Stein, zu Kohle gewandelt. Sie verfallen allmählich durch Verwitterung und den Kontakt mit Sauerstoff.

Im Spätherbst 1999 findet der Hobby-Bergsturzforscher und Bauunternehmer Reichlin Kohle. Mitten im Geröll auf dem Rossberg. Wie immer, wenn ihm etwas auffällt, folgt er den Spuren – und seinem Instinkt. Die Fährte führt ihn zur Abrissstelle des Rossbergs, die alle Erdschichten offen legt: Mergel, Sandstein, Nagelfluh. «Dann habe ich das wahrscheinlich grösste pflanzliche Fossil entdeckt, das man in der Schweiz kennt», sagt der gelernte Maurer. Sogar das Fernsehen kam und filmte ihn für die Sendung «MTW».

1806 war ein trübes Jahr. Es regnete und regnete. Im August fast ununterbrochen. Die Risse in der Nagelfluh des Rossbergs hatte man zwar bemerkt, aber nicht als Gefahr erkannt. Am Mittag des 2. September setzte der Regen aus. Doch der Himmel blieb finster. 17 Uhr. Am Gnipen, dem westlichen Gipfel des Rossbergs, löst sich das Gestein. Die Mergelschicht unter der harten Nagelfluh war so aufgeweicht, dass sie sich zur fatalen Rutschbahn wandelte. 30 bis 40 Millionen Kubikmeter Fels donnern ins Tal, eine Masse, die einem Würfel von etwa 350 Metern Kantenlänge entspricht. Der Berg erdrückt Goldau und mit dem Dorf 457 Menschen.

«Wir möchten das Gedenkjahr mit Stil begehen», sagt Margrit Betschart, Gemeinderätin von Arth-Goldau und Präsidentin des «OK Gedenkjahr Goldauer Bergsturz». Das Ereignis, eine der schwersten Naturkatastrophen in der Schweiz, jährt sich 2006 zum 200. Mal. «Dies ist kein Jubiläum, kein Festbudenanlass», sagt Margrit Betschart. Der Bergsturz sei nichts, was man vermarkten könne, das wäre pietätlos. Ein Trauerjahr solle 2006 trotzdem nicht werden. «Wir wollen zeigen, dass nach dem Unglück auch etwas Neues entstanden ist.»

Ihr selber ist der Bergsturz immer präsent, sagt sie beim inzwischen lauwarmen Espresso im Self-Service-Restaurant des Goldauer Tierparks, der sich mitten in den Felstrümmern befindet. Im «wildromantischen Bergsturzgebiet», wie es im Prospekt heisst. Schon in der Schule sind ihr die geologischen Ursachen des Bergsturzes näher gebracht worden. «Der Bergsturz gehört zu Goldau.» Eine Kommission des Ressorts Freizeit, dem Margrit Betschart vorsteht, hat den Themenwanderweg «Bergsturzspur» lanciert. Schliesslich sei der «Schutt» Naherholungsgebiet. Darunter liegen knapp 500 Tote. «Emotional berührt mich das aber nicht.»

Margrit Betschart steckt ihre Jahreseintrittskarte für den Tierpark wieder ein. Die Felsblöcke, bemoost und schneebedeckt, sehen aus wie vergessene Möbelstücke. Dazwischen tummeln sich Rehe und Mufflons; sie sind zahm und betteln den Besuchern Futter ab. Beim Eingang steht das Bergsturzdenkmal: zwei Kinder, die sich an der Hand halten. Waisen. Dort hat die Gemeinderätin auch letztes Jahr zum Gedenken eine Rede gehalten. «Mit den Ereignissen der letzten Woche ist uns der Bergsturz von 1806 wieder mit aller Härte in Erinnerung gerufen worden», sagte sie ihren Zuhörern.

Gemeint hat sie die Unwetter Ende August 2005. Die sintflutartigen Regenfälle verschonten auch Goldau nicht. Beim Gribsch, einem Teil des Rossbergs, löste sich eine Mure. Rund 30000 Kubikmeter Schlamm überdeckten die Strasse, Teile des Tierparks und den Fussballplatz. In Arth wurde die Bahnlinie verschüttet. 100 Menschen mussten im Gemeindegebiet evakuiert werden.

Rossbergkenner Thomas Reichlin hat den Erdrutsch nicht kommen sehen. Als sich der Untergrund nach den Unwettern bewegte, war er nach Arth gefahren. Am Rufiberg hatten sich Felsplatten gelöst. «Der Bauer hatte Glück», sagt er. «Doch an Orten wie Rufiberg oder Gribsch ist es gefährlich. Die Namen sagen alles.» Am Rufiberg sind schon früher Rüfen niedergegangen, und Gribsch heisst so viel wie Schotter oder loser Untergrund.

Reichlin steht dort, wo der Schlamm den Wald platt gewalzt hat. Eine Wüste. Einzelne Föhren scheinen quer am Berg angewachsen zu sein. Baumstämme liegen herum, mitten in der zerwühlten Öde liegen Felsbrocken. Ein Ferienhaus ist umgekippt. «Hier ist nur Dreck heruntergekommen», weiss der Bergsturzforscher. «Ein gewöhnlicher Murgang, der nicht mit einem Bergsturz vergleichbar ist.» Umso schwerer vorauszusehen.

Weiter oben am Rossberg, im Abbruchgebiet von 1806. Die Landschaft könnte ebenso auf dem Mond sein. Gelber Schotter liegt herum. Dann wird der Untergrund wieder fest: eine Nagelfluhschicht. «Hier oben ist während der Unwetter nichts passiert.» Thomas Reichlin kontrolliert jede Bewegung des Gesteins. Er kennt jede Spalte, jeden Felsbrocken. Auf dem Weg hinauf zur Abrisskante keucht er kein bisschen. Der 48-Jährige ist fit. Dann bleibt er wieder stehen. «Hier ist es nass», sagt er und weist auf ein Rinnsal in der Nagelfluh. «Woher kommt dieses Wasser?» Seine Frage beantwortet er gleich selbst: «Hier unten muss eine Quelle sein. Ein verästeltes Kanalsystem unter dem Stein.»

Nur 200 überlebten die Katastrophe
Der Untergrund spricht für Reichlin Bände. Doch nicht nur oben im Bergsturzhang, sondern auch unten, wo sich Neu-Goldau auf dem alten ausbreitet. «Ich gehe jeder neuen Baugrube nach», sagt er. Dass viele Häuser in Goldau irgendwie schief stehen oder unter dem Fundament plötzlich Wasser auftaucht, ist das Erbe des Bergsturzes. «Oft senkt sich das Haus an einer Stelle ab, weil der Boden aus weichem Material besteht», sagt der Experte. Andere Gebäude kann man erst errichten, wenn Felsbrocken weggesprengt werden.

Die Zahl der Überlebenden war laut Chronisten klein. Nur rund 200 Menschen vermochten der Katastrophe zu entgehen. Am Rand des Schuttkegels blieben ein paar Häuser verschont. Wie der Gasthof Bauernhof. Das Haus wurde von den Geröllmassen lediglich um 200 Meter verschoben. Schnell machte man sich an die Aufräumarbeiten. Wichtig war, dass das Wasser in geordnete Bahnen gelenkt wurde und nicht noch weitere Schäden anrichtete. Erstmals in der Geschichte der Schweiz fand eine grosse Geldsammlung zugunsten von Opfern einer Naturkatastrophe statt. Die Eidgenossen zeigten sich generös, und alle Kantone spendeten. Geld floss auch aus dem Ausland, aus Österreich etwa, Bayern, Holland. Insgesamt kamen rund 130000 damalige Franken zusammen. Das Startkapital für den Neuanfang. Vier Jahre nach der Katastrophe stand bereits das erste Haus Neu-Goldaus, das Pfrundhaus mit Gottesdienstlokal. Dann, daneben: das Gasthaus Rössli. Man lebte vor allem vom Rigi-Tourismus.

Später wandelt sich Arth-Goldau zum Eisenbahnknotenpunkt – die Gotthardlinie wird Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet. In Goldau trifft sich die Welt. Züge mit der Destination Roma-Termini, Venedig oder Stuttgart stoppen hier, damit die Reisenden umsteigen können. Im kleinen Dorf, das auf dem alten liegt. Die Gemeinde Arth, zu der auch Goldau gehört, zählt heute über 10000 Einwohner.

Warum so schnell wieder auf dem Schutt gebaut wurde? «Die Leute hatten damals mehr Gottvertrauen», ist die CVP-Politikerin Margrit Betschart überzeugt. Nach den schweren Unwettern von 2005 sind die Menschen am Fusse des Rossbergs wieder aufgeschreckt worden. An einem Infoabend hat der Gemeinderat erklärt: «Es kann immer etwas kommen. Aber nicht in dem Ausmass wie damals.» Die Bevölkerung konnte vorerst wieder ruhig schlafen.

«Der Rossberg bei Goldau ist für Bergsturzvorgänge disponiert», sagt Peter Steinegger vom Amt für Wald, Jagd und Fischerei des Kantons Schwyz. Er arbeitet im Fachbereich Naturgefahren. «Es gibt relativ hohe Jahresniederschläge, homogene geologische Schichten, die gleichmässig geneigt sind, und Mergelschichten im Untergrund. Diese werden schmierig und glitschig, wenn es regnet.» 1806 gab es laut Steinegger genügend Hinweise auf einen Bergsturz. Doch man habe damals die Grössenordnung nicht erkannt oder krass unterschätzt.

«Ein Bergsturz ereignet sich nie spontan. Er kündigt sich Wochen und Monate im Voraus an – mit Bodenbewegungen, Bodenrissen, Rumpeln, Krachen und Ächzen im Untergrund.»

Heute würde dies sofort erkannt. «Das Rossberggebiet wird messtechnisch überwacht», so Steinegger. «Wenn sich die Bewegungen beschleunigen, werden die Messintervalle verkürzt, so dass frühzeitig und auf gesicherter Datenbasis nötige Massnahmen wie etwa Evakuationen getroffen werden können.»

Unter Geröll der Zopf eines Mädchens
Eine ist nicht beruhigt: Hilda Bidoggia, geborene Marty, 74. Sie hütet gelegentlich im Bergsturzmuseum die Gegenstände, die wieder aus dem Geröll aufgetaucht sind. Ein Zopf eines kleinen Mädchens etwa, der mit einer Lehmschicht überzogen ist. Ein Gekreuzigter aus Bronze, dessen Arme durch den Druck des Gesteins nach unten gebogen wurden. Ein Rosenkranz.

«Damals, bevor der Berg kam», sagt Hilda Bidoggia, «lebten die Leute unbekümmert.» Sie hätten nicht geahnt, welch Unglück sie ereilen würde. «Und auch heute denkt niemand an eine Katastrophe.» Die Rentnerin verschwindet in ihrem Kabäuschen, sobald jemand den Kopf in das kleine Museum streckt. «Es ist Eintritt für Erwachsene», erklärt sie den Besuchern etwas umständlich. «Drei Franken kostet das Billett.» Die meisten machen wieder kehrt. Dann steht Hilda Bidoggia neben dem Schaukasten und erzählt. Ab und zu wischt sie mit einem Zipfel ihrer Strickjacke Fingerabdrücke vom Glas.

Als sechsjähriges Mädchen ist sie mit ihren Eltern aus einem Nachbardorf nach Goldau gezogen, im Frühjahr 1937. «Ich erinnere mich noch genau an den Anblick des Rossbergs, am ersten Morgen. Er war so kahl.» Die Zeit heilt alle Wunden. Nun ist die Fläche fast ganz grün. «Wenn mich ein Museumsbesucher fragt, ob es wieder zu einem Bergsturz kommen könnte, sage ich Ja.» Nur über den Zeitpunkt ist sich Hilda Bidoggia nicht im Klaren. «Vielleicht in 300 Jahren?»

Zurzeit rumort es auf dem Rossberg nicht. Es herrscht Ruhe. «Das geniesse ich», schwärmt Thomas Reichlin. «Dann sitze ich hier im Fels und schaue dem Falken zu.» Einzig das Rauschen der fernen Autobahn stört den Frieden. Der Berg trägt die Töne hinauf. «Das Sonntagskonzert höre ich mir nicht im Tierpark an, sondern hier oben.» Ja, ein Sonntagsspaziergang ist es für ihn, wenn er den Fels hochklettert. «Um elf bin ich aber wieder zu Hause und koche für Frau und Tochter.»

Auf dem Rossberg ist Reichlin eins mit der Natur – und mit sich selbst. Unten im Tal sieht er sich als Einzelkämpfer, als einer, der nicht von seiner Meinung abrückt. Auch politisch: «Bei Abstimmungen liege ich hier im Kanton Schwyz zu 90 Prozent lätz.» Das alles hindert ihn aber nicht daran, das Leben auszukosten, mit gutem Wein und feinem Essen. Früher, da kurvte er mit seinem Töff herum – Tempo 120, schlechte Bremsen. Heute meidet er das Risiko tunlichst. Auf seinen einsamen Exkursionen im Bergsturzgebiet trägt er einen Helm.

Kommt der Berg wieder? «Irgendwann sicher.» Aber das würde Thomas Reichlin vorher registrieren – er, der jede Spalte im Fels kennt. Eine Überraschung gäbe es nicht, es würde langsam vor sich gehen. «Wir hätten auf jeden Fall genug Zeit zum Packen.»