In der Impffrage gehen die Wogen hoch. Wenn ein Konzertveranstalter ein Covid-Zertifikat verlangt, kritisieren Ungeimpfte das als Diskriminierung. Und Geimpfte werfen Ungeimpften vor, andere zu gefährden und Mutationen zu begünstigen. Teilweise fordern sie gar einen Impfzwang. 

Ja, wir haben einen Konflikt. Zwischen eigener Freiheit und Gesundheit anderer. Für solche Konflikte gibt es Regeln, auf die wir uns in ruhigen Zeiten geeinigt haben. Sie stehen in der Verfassung und sind über Jahrhunderte gereift. Dabei geht es weder darum, Ungeimpfte zu diskriminieren, noch darum, die Geimpften zu privilegieren. Es geht um Grundrechte Grundrechte Wie viel Macht hat der Staat? . Und um ihre Einschränkung, wenn Zielkonflikte bestehen. Genau wie jetzt. 

Begonnen hat alles mit Zwang. Der Staat hat Restaurants, Läden und vieles mehr geschlossen. Er hat damit unser aller Grundrechte eingeschränkt – etwa die persönliche Freiheit oder die Handels- und Gewerbefreiheit. Das durfte er, weil dem öffentlichen Gesundheitswesen Gefahr drohte. Aber nur solange er im Rahmen des Epidemiengesetzes bleibt; und nur solange er die mildesten Massnahmen ergreift, die notwendig sind, die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Auch das steht in der Verfassung.

Die Sache mit dem Zwang

Die meisten haben das akzeptiert. Bis die Impfung kam. Sie zwingt den Staat dazu, zwischen Geimpften und Ungeimpften zu unterscheiden. Denn die Impfung reduziert die Gefahr, andere anzustecken, enorm – je nach Studie zwischen 50 und 88 Prozent, die schweren Verläufe bei Geimpften sind selten. Darum sind sie kaum mehr eine Gefahr für das Gesundheitswesen, Massnahmen wie die Quarantäne nicht mehr notwendig. Wenn der Staat diese aufhebt, gewährt er also kein Privileg, nein, er tut seine Pflicht. 

Der Staat diskriminiert damit nicht die Ungeimpften, denn er muss nach einer bekannten Formel «Gleiches gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandeln». Die Impfung macht den Unterschied aus. Sie ist – gleich wie eine Genesung oder ein negativer Test – ein Grund für Ungleichbehandlung. Von Ungeimpften geht eine grössere Gefahr für das Gesundheitswesen aus – sei es, dass sie oder andere, die sie anstecken, schwer erkranken, sei es, dass sie Mutationen begünstigen. Deshalb sind verschärfte Massnahmen bei Ungeimpften zulässig – solange sie verhältnismässig sind.

So darf der Staat niemanden zur Impfung zwingen, solange es andere Mittel gibt, die Überlastung des Gesundheitswesens abzuwenden. Sonst würde er verfassungswidrig in die persönliche Integrität eingreifen. Ein Impfzwang ist deshalb zurzeit unverhältnismässig – auch für das Gesundheitspersonal. 

Es geht nur gemeinsam

Beim Umgang mit der Pandemie geht es aber nicht nur um Recht. Wir alle müssen Wege finden, uns gemeinsam in dieser Situation zurechtzufinden. Mit möglichst wenig Schaden. Das geht nur, wenn wir uns solidarisch verhalten. Unsere Gesundheit können wir langfristig gar nicht schützen ohne die anderen.

Zentral für Solidarität ist das Zuhören: Wie denken und fühlen Leute, die sich impfen lassen? Und wie sieht es im Innern von Menschen aus, die zögern, sich immunisieren zu lassen? Dieses Zuhören schafft, was wir vor allem brauchen: Verständnis und Grosszügigkeit. 

Zudem können Abwägungen laufend ändern, weil sich die Voraussetzungen ändern. Wie gut wirkt die Impfung gegen neue Mutanten? Wie viele Leute liegen im Spital? Deshalb lehrt uns die Pandemie auch Bescheidenheit im eigenen Urteil.

Auch wer anderer Meinung ist, sollte das Zumutbare machen, um andere zu schützen, und Menschen respektieren, die anders denken. So finden Geimpfte und Ungeimpfte wieder zum respektvollen Gespräch. Vereint in einer unsicheren Situation.

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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