Damit Sie nicht rätseln müssen, was in anderen vorgeht, fragen Sie am besten immer gleich nach. Hier zum Beispiel: «Offenbar ist dir der Unterschied wichtig. Kannst du mir den genauer erklären?» Wahrscheinlich wollte sich Ihre Bekannte deutlich von einer Glaubensrichtung, einer Kirche, distanzieren. Sie wollte vermutlich ausdrücken, dass ihr zwar eine Beziehung zum Göttlichen wichtig sei - sie aber nicht die Regeln, Normen und Gebräuche der Katholiken oder der Protestanten befolgen würde.

Ursprünglich bedeutet das Wort Religion Rückbezug zu einem Schöpfer (lateinisch: religio). Aber heute meint man die Institutionen mit ihren Würdenträgern, den Pfarrern oder Priestern - mit mehr oder weniger strengen moralischen Regeln und Ritualen wie Abendmahl, Messe, Predigt oder Beichte.

Der Begriff Spiritualität umfasst mehr. Wer spirituell ist, wird direkt berührt oder ergriffen vom Heiligen. Das kann sowohl in einer etablierten Kirche als auch ausserhalb stattfinden. Es scheint allerdings im Westen immer mehr Leute zu geben, deren spirituelle Sehnsucht durch die traditionellen christlichen Kirchen nicht gestillt werden kann.

Die Liebe zu Gott spüren
Aus diesem Grund hat das Interesse an Buddhismus, Sufismus oder neuerdings der Kabbala zugenommen. Die deutsche Theologin Dorothee Sölle schreibt in ihrem Buch «Mystik und Widerstand» (siehe «Buchtipp»), man fände in allen lebendigen Religionen drei Elemente: das institutionelle, das intellektuelle und das mystische. Vor allem das mystische Element fehlt heute vielen Menschen. Dabei geht es um die unmittelbare gefühlsmässige Erfahrung einer göttlichen Kraft. Die Mystiker des Mittelalters waren Gottsucher. Sie wollten nicht nur von Gott geleitet oder beschützt werden, sondern die Liebe zu ihm spüren und die Trennung von ihm überwinden.

Eine solche Sehnsucht gehört auch zur modernen Spiritualität. Ebenso wichtig ist aber das Streben nach Erkenntnis, so wie Goethes Faust wissen wollte, «was die Welt im Innersten zusammenhält». Spiritualität gibt sich auch nicht mit materiellen Erfolgen zufrieden - sie fragt nach dem Sinn des Lebens. Liebe, Mitgefühl und Achtsamkeit sind wichtige Stichworte.

Interessanterweise enthalten die Mystiken der drei Weltreligionen, der Sufismus des Islam, die Kabbala des Judentums und die Mystik des Christentums, ungefähr dieselben Werte. Während die erstarrten äusseren Formen und Dogmen zu Konflikten führen oder ihre Unterschiede gar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen missbraucht werden können, zeigt diese innere Verwandtschaft, wie gross die Nähe eigentlich ist.

Buchtipp

Dorothee Sölle: «Mystik und Widerstand»; Piper-Verlag, 2000, 382 Seiten, 18.10 CHF