Es war einmal eine Frau, die machte zu Gold, was ihr in die Hände fiel. Mit einem Pinsel aus Eichhörnchenhaar, mit einem Kleber aus Gelatine. Am hellsten Ort im verwinkelten Haus, ganz oben unter dem Dach, zwischen hölzernen Balken. Das Gold bewahrte sie in einer alten Zigarrenschachtel auf, in quadratischen Büchlein, zwischen Seidenpapier. Und wenn sie die hauchdünnen Blättchen aufs samtene Kissen kippte, setzte ihr Atem für Sekunden aus. Beim kleinsten Luftstoss würde das Gold zu glitzerndem Staub zerfallen.

Die Frau heisst Brigitte Jaggi und ist 43. Als gelernte Schriftenmalerin bemalt sie Wände, Schaufenster, Schilder, ja sogar Autos – in schönster Schrift, mit ruhiger Hand. An einem tristen Wintertag steht ein gläsernes Schild vor ihr; rechteckig, einen halben Meter breit. «Coiffeur», steht darauf, vergolden will sie es. Rund um die Buchstaben trägt sie schwarzen Lack auf; in der linken Hand einen Becher mit Farbe, den Malstock zwischen die Finger geklemmt. 

«Vor der Arbeit trinke ich keinen Kaffee, auch wenns mir schwerfällt», sagt die Winterthurerin. Jeder Strich soll sitzen; kein Zittern, kein Zucken. Eine Stunde braucht sie für das Schild, in breitem Stand, wie in Trance versunken. Dann befestigt sie es auf einem Tisch mit Rollen und schiebt ihn unters Dachfenster. Die Farbe muss trocknen, Zeit für eine Pause. Ein paar Nüsse, ein Müesli, ein grosses Glas Wasser. Zwei Treppen nach unten, zum warmen Kamin. Die Böden knarren, das Haus ist alt. Draussen schleicht eine graue Katze durch die Nebelsuppe.

Computer statt Handwerk

In Jaggis Umgebung wirkt alles ein wenig aus der Zeit gefallen, ihr Handwerk ist fast ausgestorben. Früher war die Schriftenmalerei ehrenvoll, Betriebe wurden über Generationen weitervererbt. Doch was aufwendig von Hand gefertigt wurde, erledigen heute Computer und Schablonen. Günstiger, schneller. Jaggi kann beides: traditionell und modern. Was sie lieber macht? Dumme Frage. «Kein Werk muss zu 100 Prozent traditionell sein, so altmodisch bin ich nicht. Ich weiss ja, dass sich die Welt verändert hat», sagt sie und muss selber lachen. Ein seltsamer Satz für eine 43-Jährige. 

Vor ein paar Jahren war ihr das Lachen vergangen. Da arbeitete die selbständige Kunsthandwerkerin in einem Atelier in der Winterthurer Altstadt. Der handwerkliche Teil der Arbeit wurde weniger, der Preiskampf nahm zu. Bald verbrachte sie ihre Tage vor allem mit dem Schreiben von Offerten. «Gegen all die Billigprodukte hatte ich aber keine Chance. Vielen Kunden wars egal, ob ich traditionell und nachhaltig arbeite.» So verlor sie die Freude am Beruf, kündigte ihr Atelier und nahm einen Teilzeitjob an. «Um überleben zu können.» In dieser Zeit liess sich Jaggi eine verschnörkelte pinkfarbene Schwalbe auf den rechten Unterarm stechen. Doch dazu später.

Jaggi will die hellsten Stunden nutzen und zu Gold machen, was ihr in die Hände fällt. Zwei Treppen hoch – schon sitzt sie zwischen Lichterketten und Kletterpflanzen, zwischen Büchern, Pinseln und gelben Döschen. Unter all dem Gold auf Bildern und Schildern. In einer Ecke klingelt die Mikrowelle: Wasser und Gelatine haben sich in der Hitze zu einem Klebstoff verbunden. Das Coiffeurschild steht umgedreht, das Gold wird auf der Rückseite angelegt: «Nicht umsonst spricht man von Hinterglasvergoldung», erklärt Jaggi und bepinselt die Schrift mit dem warmen Kleber.

Dann trennt sie das Gold aus dem quadratischen Büchlein. Darf nicht mehr sprechen, ja kaum noch atmen. Vorsichtig schneidet sie die Blättchen auf dem samtenen Kissen in rechteckige Stücke. Dann reibt sie sich etwas Vaseline auf den Handrücken und streicht mit dem Eichhörnchenhaarpinsel vorsichtig darüber. So hält das hauchdünne Gold an den feinen Härchen und lässt sich auf den Kleber drücken. Buchstabe um Buchstabe, trocknen lassen und dann noch mal, damit nichts durchschimmert. Für das ganze Schild braucht sie 16 goldene Quadrate – rund 50 Franken. 

«Mich fasziniert dieses hauchdünne Etwas, das Materialien verwandelt und veredelt», sagt Brigitte Jaggi. Viele denken bei Gold an harte Blöcke, Nuggets und Schmuck. Oder an Märchen: Rapunzel mit Haaren so fein wie gesponnen Gold, das Mädchen mit den goldenen Sterntalern, die Kugel des Froschkönigs. Mit Prinzessinnen konnte Jaggi aber noch nie etwas anfangen. Lieber begleitete sie ihren Vater, der am Zoll des Flughafens als Edelmetallprüfer arbeitete. 

Die Begeisterung für Gold ist geblieben – dabei sieht man es ihr gar nicht an. Da sind: die gestreifte Latzhose, ein graues Shirt und klobige Schuhe. Keine Accessoires, kein Goldschmuck, kaum Schnörkel. Bis auf die pinkfarbene Schwalbe. 

Der Einfluss der Seemänner

Zeit für einen Kaffee, Zeit für die Auflösung: Vor grossen Reisen liessen sich Seemänner im 19. Jahrhundert eine Schwalbe tätowieren. Die Vögel fliegen nie aufs offene Meer hinaus. Wer sie sah, konnte sicher sein, dass Festland ganz in der Nähe ist. «Auch ich habe den Boden unter den Füssen verloren, als ich mein früheres Atelier aufgab», sagt Jaggi. Doch nach einer Weile erkannte sie: Das Handwerk stirbt erst dann, wenn es niemand mehr ausübt. 

Also angelte sie sich neue Aufträge. Suchte Kundinnen, die ihre Arbeit schätzen. «Handgeschriebenes sieht lebendiger aus», erklärt sie und greift zu einer verputzten Platte, auf der zwei Schriftzüge untereinander stehen. Auf den ersten Blick sind sie identisch. Dann wirkt der eine ansprechender – «der handgeschriebene», freut sich Jaggi. Die Schrift passt sich den Konturen der Wand an. Durch eine Schablone entstehen hingegen harte Kanten. «Wer das Handwerk wählt, entscheidet sich gleichzeitig für meinen persönlichen Stil – wie bei einer Tätowiererin», sagt Brigitte Jaggi. Am liebsten seien ihr die Werke, denen man ihre Handschrift ansieht. 

Im letzten Frühjahr begann sie als erste Schriftenmalerin eine Weiterbildung zur Handwerkerin in der Denkmalpflege. Sobald es draussen wärmer ist, wird sie Schriften an Wirtshäusern und anderen alten Gebäuden restaurieren. «Ich habe eine Ausbildung ohne Zukunft, würden einige sagen. Dabei habe ich noch nie so viele Möglichkeiten vor mir gesehen.» Sie will das alte Handwerk in eine neue Zeit tragen. Moderner, kreativer – mit eigener Note. 

Feierabend. Die glänzenden Reste landen in einem grossen Glas. Wenn Jaggi es schüttelt, tanzt der zerfallene Goldstaub wie in einer Schneekugel.

 

Weitere Infos unter: brigittejaggi.ch

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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