Es war einmal eine alte Frau, die hütete in ihrem Haus einen Schatz. Doch dieser Schatz bestand weder aus Gold noch aus Edelsteinen, sondern aus Tausenden von Büchern.

So beginnen Märchen, aber diese alte Frau gibt es wirklich. Sie heisst Elisabeth Erb, ist 81 und steht an diesem Sonntagmorgen aufrecht wie ein Baum vor ihrer Haustür in Grüt im Zürcher Oberland. Ihr Händedruck ist fest, ihr Lächeln strahlend. Auch den Schatz gibt es wirklich. Er verbirgt sich in Erbs Wohnung, in einem Zimmer am Ende eines langen Flurs. Erb, die inzwischen Kaffee gekocht hat, geht voraus, ein Tablett mit Tassen und Pralinen balancierend.

Vor der hintersten Tür bleibt sie stehen. Der Besuch soll vorgehen. Diese Stille! Als schluckten die Märchenbücher in den Regalen entlang der Wände jedes Geräusch. Buchrücken in Reih und Glied, dicke, dünne, schlichte, lederne mit prächtiger Goldprägung. Sie strahlen etwas Geheimnisvolles aus. Wie ein Wald, bevor man ihn betritt.

Erb trug ihren Schatz in den letzten 20 Jahren Stück für Stück selbst zusammen. Sie suchte auf Flohmärkten, in Brockenstuben, verstaubten Antiquariaten, im Internet. Über 3000 Bücher sind so zusammengekommen, darunter wahre Kostbarkeiten, etwa die komplette Reihe «Märchen der Weltliteratur», rund 150 Bände. Die ersten davon wurden gedruckt, als die «Titanic» im Atlantik versank. Nun stehen sie hier, sind Erbs ganzer Stolz. «Geplant war das nie», sagt sie.

Die Märchen und Elisabeth Erb, das war lange Zeit eine eher lose Verbindung. «Ich war interessiert, aber hatte halt auch mein eigenes Leben.» Sie zog drei Kinder gross, arbeitete als Lehrerin und Erwachsenenbildnerin. Dass sie sich überhaupt für Märchen interessierte, verdankte sie ihrem Deutschlehrer in der Mittelschule. «Er interpretierte Märchen mit uns. Schon damals spürte ich, dass einige in mir ein Echo auslösten.» Der Lehrer, Max Lüthi, wurde später Professor für europäische Volksliteratur in Zürich, eine Grösse der internationalen Märchenforschung. Erb liess, als sie in Zürich studierte, keine seiner Vorlesungen aus.

Illustration auf einer Seite in einem Märchenbuch von Elisabeth Erb. «Ist das nicht wunderschön?»: Elisabeth Erb besitzt bezaubernde Bücher.

«Ist das nicht wunderschön?»: Elisabeth Erb besitzt bezaubernde Bücher.

Quelle: Stephan Rappo

Ein Unfall mit Folgen

Nach dem Studium riss das Leben sie mit sich fort, auch fort von den Märchen. Bis sie vor rund 30 Jahren einen schweren Skiunfall hatte und sich mehreren Operationen unterziehen musste. Lange Zeit konnte sie deshalb nicht mehr reisen. «Ich wollte nicht Trübsal blasen und entschied, das Geld, das ich fürs Reisen ausgegeben hätte, in etwas anderes Schönes zu investieren.» So fing sie an, Märchenbücher zu sammeln.

Das Tablett mit Kaffee und Pralinen steht unberührt auf dem kleinen Lesetisch. Erb hat nur Augen für die Bücher. Hin und wieder zieht sie eins heraus, öffnet es, streicht über die Abbildungen und murmelt: «Ist das nicht wunderschön?» In dem Buch mit dem Titel «Griechische Volksmärchen» blättert sie lange. «Hier ist es.» Sie seufzt. «‹Die unglückliche Prinzessin› – das war für eine gewisse Zeit mein Lieblingsmärchen.»

«So vieles in einem Märchen rührt an ­Erfahrungen, die fast ­jeder Mensch kennt.»

Elisabeth Erb, Sammlerin

In ihrem Leben habe es schwierige Phasen gegeben. «Nichts für die Öffentlichkeit.» Auch die unglückliche Prinzessin trägt ein schweres Schicksal. Es gelingt ihr jedoch, es zum Guten zu wenden. Erb las das Märchen ein ums andere Mal: wie die Prinzessin auszieht, um ein neues, besseres Schicksal zu bekommen. Wie sie am Wegrand auf Menschen trifft, die ihr wohlgesinnt sind. Wie auch sie anderen hilft und die Hoffnung nie aufgibt.

«Das machte mir Mut», sagt sie. So vieles in dem Märchen rühre an Erfahrungen, die fast jeder Mensch kenne. «Man macht sich auf den Weg, um eine Aufgabe zu lösen, eine Krise zu meistern.» In den meisten Volksmärchen führe die Reise zu einem guten Ende. «Deshalb liebe ich sie auch so.» Voraussetzung aber sei, dass man die Helfenden am Wegrand erkenne, ihnen mit Respekt und Mitgefühl begegne und dabei sein Ziel unbeirrt weiterverfolge.

Elisabeth Erb liest auf einem Stuhl in einem ihrer 3000 Märchenbücher. «Das machte mir Mut»: Ein Märchen kann auch eine Lebenshilfe sein, sagt Elisabeth Erb.

«Das machte mir Mut»: Ein Märchen kann auch eine Lebenshilfe sein, sagt Elisabeth Erb.

Quelle: Stephan Rappo

Erzählen lernen

Der Skiunfall lag schon einige Jahre zurück, im Zimmer am Ende des langen Flurs stapelten sich bereits die ersten Sammlerstücke, als Erb zufällig auf ein Inserat stiess. Darin bewarb die Mutabor Märchenstiftung ihre Ausbildung zur Erzählerin oder zum Erzähler. Die Stiftung ist gemeinnützig und hat ihren Sitz im Emmental. Sie will das Märchengut aus der Nur-für-Kinder-Ecke herausholen und wieder mehr im Alltag verankern.

Erb machte die Ausbildung. Sie lernte, frei zu erzählen, feilte an ihrer Gestik, übte sich in Auftrittsdramaturgie. «Aber das Wichtigste ist, dass du in deiner eigenen Sprache erzählst», sagt Erb. Vor ihren Auftritten, etwa bei Familienfeiern, im Seniorenheim oder in der Musikschule, arbeitet sie intensiv daran, die Texte ins Zürichdeutsche zu übertragen. Immer wieder spricht sie sich die Sätze vor, bis sie ihr irgendwann in Fleisch und Blut übergehen.

Die Weisheit, die in den Märchen schlummert, dieses tiefere Verständnis für die Zusammenhänge des Lebens, von dem Erb sagt, es ­könne heilen, berührt jeden Menschen anders.

Während der Kurse lernte Erb das Netzwerk der Stiftung kennen, das auch private und öffentliche Märchen-Lesebibliotheken umfasst und inzwischen die ganze Deutschschweiz umspannt, vom Bodensee bis in den Berner Jura. Seitdem ist auch ihre Schatzkammer Teil dieses Netzwerks. Alle, die in ihren Büchern schmökern wollen, können Erb anrufen und werden eingelassen. Es gibt sogar ein Gästezimmer, falls jemand länger bleiben mag.

Nur selten kommen Einzelpersonen vorbei. Einmal waren zwei junge Frauen da, die an einer Maturaarbeit über Aschenputtel schrieben. Immer wieder melden sich Gruppen an, Schulklassen oder Erzählerkolleginnen und -kollegen auf einem Ausflug. Die meisten Leute aber schicken einfach eine Mail, weil sie eine fachliche Frage haben.

Erb ist darüber nicht betrübt. Wer kommt, der kommt. Sie weiss, dass sie nichts erzwingen kann. Die Weisheit, die in den Märchen schlummert, dieses tiefere Verständnis für die Zusammenhänge des Lebens, von dem Erb sagt, es könne heilen, berührt jeden Menschen anders.

Einige kostbare Märchenbücher in Elisabeth Erbs Sammlung. In Erbs Sammlung sind auch wahre Kostbarkeiten zu entdecken.

In Erbs Sammlung sind auch wahre Kostbarkeiten zu entdecken.

Quelle: Stephan Rappo

«Inuk» statt «Eskimo»

Die Menschen, die sich durch Märchen verletzt fühlen, weil sie in ihnen keine Weisheit, sondern Diskriminierung oder Rassismus erkennen, thematisiert Erb nicht. Dabei wächst die Zahl derer, die zum Beispiel die rassistischen Klischees in den «Indianermärchen» kritisieren. Oder die der Meinung sind, die Märchen der Brüder Grimm würden negative Frauenbilder transportieren. Weil die Prinzessinnen darin oft unselbständig seien, abhängig von einem Prinzen, der sie rette. Weil ältere Frauen nur als böse, hässliche Stiefmütter und Hexen vorkämen.

Hat sie sich nicht auch Gedanken über Diskriminierung und Rassismus in Märchen machen müssen? Sie überlegt, sagt dann, beides sei in vielen Märchen eine Tatsache. Sie versuche, wenn sie als Erzählerin auftrete, darauf einzugehen, sage zum Beispiel «Inuk» statt «Eskimo». Ihr ist es aber auch wichtig, zu betonen, dass die Märchen in einem bestimmten geschichtlichen und sozialen Kontext entstanden sind, in dem das, was heute als diskriminierend empfunden wird, üblich war.

Sie gehe davon aus, dass die erwachsenen Hörer oder Leserinnen das auch wissen und kritisch genug sind, sich eine eigene Meinung dazu zu bilden. «Die problematischen Stellen einfach zu zensieren, würde deren Urteilsfähigkeit missachten.» Und wenn sie die problematischen Stellen bei ihren Auftritten einfach thematisiert, die historischen Gründe dafür erklärt – wäre das eine Lösung? «Nein!» Sie schüttelt entschieden den Kopf. «Vor dem Auftritt solche Fragen mit dem Publikum zu besprechen, das würde die Leute doch von der Schönheit des Märchens ablenken.»

So vergingen die Jahre, die alte Frau aber betrat jeden Tag die Schatzkammer, um zum Rechten zu schauen. Die Bücher standen still und dunkel da und brachten ihre Augen zum Leuchten.

Mehr Infos

Die Märchen-Lesebibliothek von Elisabeth Erb kann man nach Voranmeldung besuchen.
Kontakt: 079 794 72 92 oder elisabethk.erb(at)gmail.com

Informationen zur Mutabor Märchenstiftung und zu weiteren Märchen-Lesebibliotheken finden Sie im Internet auf www.maerchenstiftung.ch

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