Eigentlich wollten wir an jenem Samstagnachmittag an den Blausee. Vor dem Sonnenbergtunnel auf der A2 bei Luzern standen wir aber plötzlich im Stau. Mindestens zehn Minuten lang. Als wir in den Tunnel kamen, wurde klar, weshalb: Ein Auto stand mitten auf der Strasse, auf der Trennlinie der beiden Spuren. Es bewegte sich vor und zurück. Wer vorbeifahren wollte, musste einen Bogen machen. Wie alle anderen schauten auch meine Frau und ich hin. Der Mann am Steuer und seine Mitfahrerin sassen regungslos da. Sie waren bewusstlos, vielleicht sogar tot.

Plötzlich: Da hinten sitzen noch Kinder!

Ich dachte sofort an Gas, das vom Motor in die Kabine eingedrungen sein könnte. Und mir war klar: Die müssen so schnell wie möglich raus aus dem Auto! Ich hielt an, rannte hinüber, riss die Tür auf, zog die Handbremse an und hievte den Fahrer heraus. Glücklicherweise war die Zentralverriegelung nicht eingeschaltet, sonst hätte ich die Scheibe einschlagen müssen. Der Mann zitterte leicht. Deshalb wusste ich, dass er noch am Leben war. Nach einer Minute an der frischen Luft kam er wieder zu Bewusstsein.

Ich winkte andern Autofahrern zu, damit sie mir halfen. Denn erst da sah ich, dass hinten im Wagen noch zwei Buben waren. Einer ist im Kindergarten, der andere neun, erfuhr ich später. Ich hatte sie nicht sehen können, sie waren bewusstlos zusammengesunken. Gott sei Dank stoppten dann weitere Fahrer. Eine Frau und ein Polizist, der privat unterwegs war, halfen sofort. Die ganze Familie überlebte unbeschadet. Einer der Buben hat vom austretenden Gas leichte Kälteverbrennungen an der Hand. Gemäss dem gerichtsmedizinischen Gutachten kam die Hilfe in letzter Minute. Alle waren in höchster Lebensgefahr.

Zum Unglück war es gekommen, weil die Familie eine CO2-Flasche dabeihatte, die sie für ihr Aquarium brauchte. Die muss leckgeschlagen sein. Das CO2 trat aus, und alle verloren das Bewusstsein. Eine sogenannte Kohlenstoffdioxid-Narkose, die zu Atemstillstand führen kann. Wenn man keine Frischluft hat, geht das sehr schnell. Glücklicherweise hatte der Fahrer im Tunnel nicht auf Umluft geschaltet, wie man das normalerweise macht, damit keine Abgase ins Auto gelangen. So kam immer wieder frische Luft ins Innere, das Gas wurde verdünnt. Der Vater sagte später, er habe einen Knall gehört, dann sei ihm schwarz vor den Augen geworden.

Empörend, dass niemand geholfen hat

Meine Frau hat sofort die Ambulanz angerufen. Die waren aber schon unterwegs. Jemand hatte den Unfall bereits gemeldet. Aber niemand wollte selber helfen. Das ist für mich unverständlich. Meine Frau wollte mir helfen, ich sagte aber, sie solle besser bei den Kindern bleiben. Viele Leute sind überfordert mit solchen Situationen. Vor allem in einem Tunnel! Viele sind einfach froh, wenn sie wieder draussen sind. Trotzdem finde ich es empörend, dass niemand geholfen hat.

Ich bin Heizungsmonteur. Aber am Wochenende arbeite ich noch für einen Sicherheitsdienst, weil wir für ein Haus sparen. Als Security-Angestellter bin ich Stresssituationen eher gewohnt als andere.

Zudem hatte ich mit 15 ein einschneidendes Erlebnis. Ich war in Sizilien mit meinem Cousin unterwegs, als wir an einen Unfall gerieten. Ein Jugendlicher war mit dem Töff gestürzt, hatte sich schwer am Bein verletzt und blutete stark. Das Bein hatte er abgebunden. Wir fragten, ob wir ihm helfen könnten. Er meinte, es sei alles in Ordnung, die Ambulanz sei unterwegs. Und so gingen wir weiter. Später lasen wir in der Zeitung, der junge Mann sei gestorben. Er war verblutet. Das hat mich bis heute geprägt.

Verkehrsunfall: Checkliste

Wie reagiert man richtig bei einem Unfall? Unsere Checkliste zum Ausdrucken und Mitnehmen.

Mit den Geretteten am Tisch

Unsere Kinder sind glücklicherweise noch klein, sie haben nicht viel mitbekommen. Sie durften aber mit, als die gerettete Familie uns und die anderen Helfer eingeladen hatte. Das fanden sie toll. Sie konnten das Aquarium bestaunen – das grösste, das ich je gesehen habe – und sie konnten mit den beiden Buben spielen.

Es war schon ein spezielles Gefühl, mit Leuten am Tisch zu sitzen, die ohne unsere Hilfe hätten tot sein können. Es gab megafeinen Schinken im Teig, und wir Helfer bekamen auch noch Geschenkkörbe. Von der Polizei gab es zum Dank ein Sackmesser.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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