Der Anwalt von der Bahnhofstrasse nimmt ein ganzes Volk in Sippenhaft. Alle Russen, die in der Schweiz leben, würde er aus dem Land weisen, «sofort!». Das sagte András Gurovits, Vizepräsident der Zürcher Grasshoppers, dem «Tages-Anzeiger». «Sie sollen zurück in ihr Reich und ihrem Herrscher da zujubeln.»

Gurovits’ Frau ist Ukrainerin, seine Aussagen sind Ausdruck seiner Emotionen. Dennoch trifft seine radikale Forderung eine Grundstimmung, die seit Kriegsbeginn spürbar ist: Die Russen sind die Bösewichte. Der Reflex aus dem Kalten Krieg ist zurück.

«Die Russen», das sind auch die rund 16'500 russischen Staatsbürgerinnen und -bürger, die in der Schweiz leben und arbeiten; ein Höchstwert seit dem Zerfall der Sowjetunion. Wie gehen sie damit um, dass – direkt oder versteckt – mit dem Finger auf sie gezeigt wird? Wie erleben sie aus der Distanz den Krieg, den Putin angezettelt hat?

Anastasia Frei (46) – «Ich bin überzeugt, dass meine Freundschaften mit Leuten aus der Ukraine an diesem Krieg nicht zerbrechen.»


In Russland führe man wichtige Gespräche in der Küche, sagt die 46-jährige Anastasia Frei. Beim Gang durch die mit hohen Spiegeln ausgestattete Wohnung mitten im Zürcher Ausgehviertel wird klar: Hier leben Menschen, die Wert auf das Schöne legen.

«Kurz bevor es in der Ukraine losging, habe ich mich in Mailand mit Berufskollegen aus der Textilbranche getroffen. Es war so schön, nach der Pandemie endlich wieder mit diesen guten Leuten in einer Runde zu sitzen. Eine internationale Gruppe, mit Russen und Ukrainern, ganz selbstverständlich nebeneinander, so wie früher. Wir haben uns umarmt, uns über die wiedererlangte Normalität gefreut. Jemand sagte: ‹The war is over.› Er meinte den Krieg gegen Corona. Wenige Tage später ging der richtige Krieg los. Nun macht der böse Scherz die Runde: ‹Gebt uns Covid zurück!› Nichts ist schlimmer als das, was jetzt ist.

Jenes optimistische Treffen in Italien wirkt heute auf mich surreal. Dass mein Land gegen ein Land Krieg führt, in dem ich Freunde und Kunden habe, kann ich nicht glauben und nicht akzeptieren. Es ist ein Schock.

Ich stamme aus einer Kleinstadt an der Wolga, meine Eltern sind noch immer dort. Wir fühlten uns privilegiert, in der Sowjetunion aufwachsen zu dürfen. Als Jugendliche erlebte ich die Perestroika, das war eine verrückte Zeit. Später ging ich nach Moskau, wo ich meinen Mann kennenlernte, einen Schweizer. 2010 zogen wir nach Zürich. Für mich war es kein Entscheid, Russland verlassen zu wollen. Ich liebe mein Land. Damals bin ich meinem Mann gefolgt, weil er hier die besseren Aussichten im Beruf hat. Er ist ebenfalls in der Textilbranche tätig. Wir sind Leute, die Schönheit und Kultur lieben. Ein politischer Mensch war ich nie.

Zurzeit bin ich ständig in Kontakt mit Bekannten sowohl in Russland wie in der Ukraine. Sie sind meine Informationsquellen, einen Fernseher haben wir nicht. Ich glaube nur das, was mir meine Freunde sagen. Dabei interessieren mich die Fakten, nicht die Meinungen. Ich frage immer: ‹Sag mir, was du von deiner Wohnung aus siehst. Was passiert?›

Natürlich mache ich mir grosse Sorgen um meine Freunde und Angehörigen. Aber ich versuche, trotzdem möglichst ruhig zu bleiben. Denn Angst ist eine schlechte Energie, und davon gibt es in einem Krieg sonst schon genug.

Ich weiss, dass es Anfeindungen gegen uns Russen gibt, auch hier in der Schweiz. Persönlich hatte ich bisher keine negativen Reaktionen, nicht einmal von Leuten aus der Ukraine. Diese Freundschaften sind jetzt einer Belastungsprobe ausgesetzt, aber ich bin überzeugt, dass sie an diesem Krieg nicht zerbrechen.

Was meine Hoffnung ist? Ich hoffe, dass sich die Prophezeiung von Dostojewski bewahrheitet: ‹Schönheit wird die Welt retten.› Das klingt jetzt vielleicht naiv. Aber ich will den Glauben daran nicht verlieren.»

Alexei K.* (45) – «Bis zum 24. Februar war ich stolz darauf, Russe zu sein. Jetzt schäme ich mich für meine Herkunft.»


Im Café am Zürcher Limmatplatz ist es Alexei K.* (Name geändert) zu laut. Er schlägt für unser Gespräch das Migros-Restaurant nebenan vor. Um diese Zeit ist es dort fast leer. Der 45-Jährige nimmt an einem der hintersten Tische Platz. Sagt, Worte könnten nicht beschreiben, wie er sich fühle. Mit leiser Stimme versucht er es trotzdem.

«Es ist ein Krieg. Wer etwas anderes behauptet, belügt sich selbst und alle anderen. Die ersten beiden Tage erlebte ich in Schockstarre. Niemand rechnete damit, dass Putin ohne Kriegserklärung Bomben über der Ukraine abwerfen würde. Jetzt sehe ich überall Bilder von ausgebrannten russischen Panzern und abgestürzten Kampfjets. Und ich bringe es einfach nicht in meinen Kopf, dass russische Soldaten in der Ukraine getötet werden.

Wenn alles schiefgehe, könne die Welt etwas Grosses erleben, sagte Putin. Für mich kann das nur eines bedeuten: ein atomarer Angriff. Die Konsequenzen dieser Worte – und letztlich der Taten –, das ist der Horror, der reinste Horror. Jeder Tag könnte auch für uns der letzte sein. Ich habe zwei Töchter. Es ist hart, mit ihnen über diese Dinge zu sprechen. Was soll das für eine Zukunft für sie sein? Wir hoffen einfach, dass es nicht so weit kommt.

Ich habe Freunde in der Ukraine, meine Frau hat Verwandte dort. Sie sind zu alt, um zu flüchten. Alle paar Tage melden sie sich bei uns. Sie erzählen von den Raketenangriffen, verlassen den Keller nur tagsüber kurz. Essen gibt es noch, aber immer weniger.

Ich bin gegen diesen Krieg, grosse Teile der russischen Bevölkerung sind gegen diesen Krieg. Ich kenne aber Leute, auch in der Schweiz, die Putin unterstützen. Die russische Propaganda wirkt. Viele glauben, die Ukrainer wollten chemische Waffen entwickeln, um Russland anzugreifen. Man fürchtet neue Nato-Stützpunkte. Jede Russin und jeder Russe ist diesem Informationsdruck des Kremls ständig ausgesetzt, seit Jahren.

Wenn du in Russland gegen die Regierung bist, gehst du entweder ins Gefängnis – oder ins Ausland. Die meisten, die ihre Heimat verlassen, hoffen auf einen Machtwechsel in Moskau. Doch die Truppe dort unternimmt alles Mögliche, um an der Macht zu bleiben. Die Annexion der Krim war der erste Schritt, Donbass der zweite. Dann wurde die Redefreiheit immer stärker eingeschränkt. Die Invasion in die Ukraine ist nun der letzte Schritt. Macht ist wie eine Droge. Und Putin sieht offenbar keine andere Möglichkeit als Krieg, um seinen Sessel zu behalten.

Was mir persönlich sehr zu schaffen macht: Bis zum 24. Februar war ich stolz darauf, Russe zu sein. Jetzt schäme ich mich für meine Herkunft.»

Irina O.* (40) – «Tagsüber geht es mir okay, das Zittern hat aufgehört. Wenn ich schlafen gehe, kreisen die Gedanken.»


Vor der Siedlung an einem Waldrand bei Bern spielen Kinder. Irina O.* sitzt auf dem Balkon und zieht nervös an einer Zigarette. Sie habe eigentlich gar nicht mehr geraucht, sagt die 40-Jährige. Die letzten Tage haben ihr zugesetzt.

«Dass mein Land, das vor 80 Jahren so viele Opfer für den Frieden in Europa gebracht hat, nun zu so etwas fähig ist, zerreisst mir das Herz. Es gibt jetzt eine Nation, die uns hasst. Für die nächsten hundert Jahre, das ist mir klar. Ich verstehe das. Wenn dein Haus bombardiert, dein Kind verletzt oder gar getötet wird, dann ist diese Wut nachvollziehbar.

Alles liegt in Trümmern. Für mich gibt es eine Welt vor dem Krieg und eine Welt danach. Mein Land erwartet nichts Gutes mehr. Und ich verliere meine Identität. Bin ich Russin? Und falls ja: was für eine? Das Leben in Russland wird sein wie damals vor 30 Jahren. Ich weiss sehr gut, was das heisst. Wie es ist, wenn die Menschen an Hunger und unter der Armut leiden. Ich war eines dieser Kinder, die drei Stunden für ein Kilo Zucker anstanden. Im Winter probierte ich auf einem Stück Karton im Schnee frierend Kleider an.

Eine Freundin aus St. Petersburg sagte mir, sie sei bankrott. Sie verkaufte Blumen. Aber niemand kauft noch Blumen. Mich plagen Schuldgefühle. Ich führe hier ein gutes Leben mit Tochter und Mann, während sich mein Heimatland im Krieg befindet. Tagsüber geht es mir okay, das Zittern hat aufgehört. Wenn ich schlafen gehe, kreisen die Gedanken. Stets frage ich mich, was ich falsch gemacht habe. Eine Antwort finde ich nicht.

Dieser Angriff ist durch nichts zu rechtfertigen. Putin ist ein Verbrecher. Er gehört vor ein internationales Gericht gestellt. Leider weiss ich, dass das niemals geschehen wird. Ich habe in Russland fünf Jahre Geschichte studiert. Sogar Stalin, einer der Schlimmsten, kam ungeschoren davon.

Der Hass schlägt mir als Kriegsgegnerin vor allem in den sozialen Medien entgegen. Jemand schrieb mir kürzlich: ‹Du bist eine Verräterin!› Ein anderer: ‹Ich hasse dich, weil du nicht alle Russen hasst!› Was soll das? Eine Bekannte von mir ist halb Russin, halb Ukrainerin. Ihr Sohn dient in der ukrainischen Armee, ihre Tochter lebt in der russischen Stadt Krasnodar. Wen soll sie hassen?

Mein Mann ist halb Deutscher. Unsere Grossväter waren beide in Stalingrad, einfach auf verschiedenen Seiten. Soll ich deswegen nun meine Schwiegermutter hassen? Solche Gedanken sind mir fremd. Als sich unsere Grossmütter zur Taufe unserer Tochter getroffen haben, war das ein schöner Moment. Es ist doch einfach wichtig, Mensch zu bleiben.»

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