Aufgezeichnet von Jonas Schlagenhauf:

Als Jugendliche sagte ich zu meiner Mutter: Ich heirate niemals einen Metzger oder einen Schausteller. Wenn es dabei geblieben wäre, würde ich heute nicht hier stehen. Mein Mann war – Sie dürfen dreimal raten – Schausteller und Metzger. Er brachte mich zur Schaustellerei. Leider verstarb er vor elf Jahren.

In den über 40 Jahren, in denen ich nun als Schaustellerin durchs Land ziehe, habe ich mir einen Namen gemacht und gehöre in vielen Städten einfach zur Chilbi dazu. Einige nennen mich gar «Chilbi-Mami».

Die Chilbi hat sich in den vielen Jahren stark verändert. Die Leute sind heute viel anspruchsvoller als früher. Das fängt bei den Kinderkarussells an. Fahrzeuge und Rössli allein reichen nicht mehr – die Kinder wollen schalten und steuern.

Und wenn früher die Eltern sagten, dass das Kind nicht aufs Karussell durfte, dann gab es keine Diskussion. Heute schreien die Kleinen rum, wenn es nicht läuft, wie sie wollen. Vor ein paar Tagen habe ich einen Buben beobachtet, der seine Mutter mit Steinen bewarf, weil er nicht aufs Karussell durfte. Die Kinder sind frecher geworden.

Aber die Chilbi hat natürlich vor allem positive Seiten. Die Leute sind so fröhlich, und hier bin ich meine eigene Chefin. Das gefällt mir – ich will nichts anderes mehr. Sehr schöne Momente erlebe ich vor allem in Gesprächen. Ich werde in meinem Kassenhäuschen immer wieder angesprochen und erhalte Komplimente von Leuten, die ich manchmal gar nicht kenne. Sie freuen sich darüber, dass ich wieder in ihrer Stadt bin.

«Wir haben mit einem Wurststand, einer Schiessbude und einem Ringwerfen angefangen.»

Maya Hauri, «Chilbi-Mami»

In Pension zu gehen, kommt für mich nicht in Frage. Falls ich irgendwann keine Lust mehr haben sollte, würde ich am liebsten irgendwo in Südtirol ein kleines Café eröffnen. Einfach so aufhören zu arbeiten, das kann ich nicht. Natürlich: Auch ich habe gern frei, dann gehe ich wellnessen oder ins Theater. Mit der Zeit wird mir das jedoch langweilig. 

Kollegen haben mir schon vorausgesagt, dass ich arbeite, bis ich umkippe und man mich im Sarg zum Kassenhäuschen hinaustragen muss. Was mit meinen Geschäften passiert, wenn ich doch eines Tages aufhöre, steht noch in den Sternen. Ich habe zwar eine Tochter und einen Stiefsohn, die mir immer wieder unter die Arme greifen. Aber bis jetzt sieht es nicht so aus, dass sie meine Geschäfte übernehmen möchten. 

Früher konnte man mit der Schaustellerei gutes Geld verdienen. Heute ist das schwerer geworden. Mein Mann und ich haben damals mit einem Wurststand, einer Schiessbude und einem Ringwerfen angefangen. Er arbeitete hinter dem Grill, ich stand in der Schiessbude. Dann haben wir uns immer mehr Geschäfte dazugekauft.

Dreimal pro Woche zum Coiffeur

Heute besitze ich mehrere Karussells, Essensstände und einen Autoscooter. Damit kann ich gut leben, aber ich bin auch bescheiden. Eine Ausnahme mache ich bei meinen Haaren, zum Coiffeur gehe ich mindestens einmal wöchentlich. Je nachdem, wie mein Terminplan aussieht, sogar bis zu dreimal pro Woche.

Das letzte Jahr war ganz schlimm. Die Pandemie traf uns Schausteller mit voller Härte. Es gab nichts zu tun, und ich bin gar nicht der Typ, der den ganzen Tag zu Hause herumsitzen kann. Es gab Tage, da ist mir fast die Decke auf den Kopf gefallen. Am schlimmsten war die Ungewissheit, wie es weitergehen würde.

Meine Arbeit hat mir auch in dieser Phase Kraft gegeben. Das war schon immer so. Mit 32 Jahren erhielt ich das erste Mal eine Krebsdiagnose. Die schlimmste Zeit für mich war jedoch, als 2010 mein Mann starb. Ich war am Boden zerstört und wusste nicht mehr weiter. Dann habe ich den Entscheid gefasst, dass ich weitermachen muss. Heute bin ich froh, dass ich nicht aufgegeben habe; denn meine Arbeit an der Autoscooter-Kasse erfüllt mich mehr denn je. 

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