Es ist noch dunkel, als sich die jungen Frauen vor dem Töchterheim Sonnenberg einreihen. In der Ebene liegt schwarz der Bodensee. Auf dem Vorplatz des Heims zerrt der Wachhund Senta aufgeregt an seiner Kette.
Als die Zweierkolonne steht, stapfen die Heimmädchen in den frühen Morgen hinaus – die Köpfe geradeaus gerichtet, ohne zu grüssen. Wie es ihnen Heimbesitzer Pierre V.* (Name der Redaktion bekannt) vorschreibt.
Die Strasse führt sie von Walzenhausen ins benachbarte Wolfhalden. In einem Gebäude voller Saurer-Stickautomaten beginnen die Frauen eine weitere Frühschicht in der Nastuchstickerei Kleinberger. Lohn erhalten sie kaum. Sie alle sind gegen ihren Willen in Walzenhausen untergebracht.
«Man kann sich gar nicht vorstellen, wie das war», sagt die ehemalige Insassin Liselotte S.*: «Die ganze Zeit mussten wir arbeiten. Das Heim hatte ja keine Angestellten, wir mussten alles selbst machen, neben der Schicht in der Stickerei.»
Das Töchterheim Sonnenberg war Teil eines repressiven Systems der Fürsorgebehörden, das aus 16- bis 20-jährigen jungen Frauen mittels «Erziehung durch Arbeit» sittsame und angepasste Ehefrauen formen sollte. Pierre V. führte sein Privatheim mit Handelsregistereintrag von 1957 bis 1975. Rund 2000 Frauen hat er in dieser Zeit nach eigenen Angaben in umliegende Fabriken zur Arbeit geschickt. Wer flüchten wollte, landete in der Arrestzelle des Heims.