Schmetterlinge haben in Niroshas Bauch keine Chance. Wenn der 17-jährigen angehenden Informatikerin ein Junge gefällt, weicht sie ihm aus. Die aufgeweckte Tochter tamilischer Eltern weiss schon von klein auf: Sie muss mit der Liebe zuwarten, bis sie mit dem Mann verlobt ist, den ihre Eltern als geeignet erachten. Er muss Tamile sein und aus der gleichen Kaste wie sie. Sie darf theoretisch auch selbst einen Mann vorschlagen, doch in der Praxis sehen sich die Eltern um, wie bei den meisten Familien aus Sri Lanka. Nirosha vertraut dem Versprechen, sie müsse nicht den Erstbesten nehmen: «Meine Eltern suchen einen Mann für mich, der mich so leben lässt, wie ich bin.»

Ihre Mutter Shantha nickt. Die beiden haben soeben Niroshas jüngere Schwester zur Tanzschule gebracht, in der auch Nirosha Unterricht nimmt - später möchte sie selbst einmal Stunden geben. Nun sitzen sie in einem Café in einer Schweizer Kleinstadt. Niroshas Kleidungsstil unterscheidet sich nicht von dem eines Schweizer Teenagers. Auch ihre Mutter ist nicht traditionell gekleidet. Auf ihrer Stirn prangt ein roter Punkt: das Zeichen, dass sie verheiratet ist.

Nicht aufs Eigenleben verzichten
Einen Kandidaten haben die Eltern bereits gesichtet. Er stammt wie sie aus Jaffna im tamilischen Norden Sri Lankas und lebt seit einem Jahr in der Schweiz. Nirosha hat einige Male mit ihm gesprochen, immer im Beisein der Mutter. Erst nach der Verlobung dürfte sie mit ihm allein sein. Er ist ein Jahr älter und beginnt bald eine Lehre.

Nirosha ist er sympathisch, er scheint ein aufgeschlossener Mann zu sein. Shantha sagt: «Meine Tochter soll ihren Beruf ausüben und auch Tanzstunden geben dürfen. Sie ist hier aufgewachsen, da können wir nicht erwarten, dass sie sich wie eine traditionelle tamilische Ehefrau verhält und auf ein Eigenleben verzichtet.» Nirosha wirft ein: «Ich würde mich in gewissen Dingen sicher zurücknehmen. Sollte er nicht wollen, dass ich weiterhin Kontakt zu Schweizer Kollegen habe, würde ich das berücksichtigen.»

Viele Ehen werden in der Schweiz durch Eltern arrangiert: unter Tamilen, Indern, Kurden, Kosovo-Albanern, aramäischen Christen, Roma, Irakern, orthodoxen Juden. Wie Nirosha können viele Töchter und Söhne eine vorgeschlagene Partie ablehnen. Der Druck, ja zu sagen, ist je nach Familie unterschiedlich gross. Viele müssen aber auch gegen ihren Willen heiraten. Wehren sie sich, werden sie aus der Familie ausgeschlossen, geschlagen oder sogar umgebracht. Man spricht in diesen Fällen von Zwangsheirat. Wie oft sie in der Schweiz vorkommt, ist unbekannt. Die Stiftung Surgir, die sich weltweit gegen fragwürdige Traditionen zulasten von Frauen einsetzt, machte 2006 in sechs Kantonen eine Stichprobe in 50 Institutionen, die im Fall einer Zwangsverheiratung kontaktiert werden könnten, beispielsweise in Opferhilfestellen, Mädchenhäusern oder bei der Polizei. Die Institutionen gaben 400 aktuelle Fälle an - im Schnitt also acht pro Organisation. Diese Zahl rechnete Surgir auf die schweizweit 2138 Institutionen hoch, was ein Total von 17'000 Fällen pro Jahr ergibt. Auch unter Tamilen kommt die Zwangsheirat vor. Dafür hat Niroshas Mutter Shantha wenig Verständnis. «Das gibt es hier schon, ich glaube aber weniger als in Sri Lanka. Ich würde meine Kinder nie mit jemandem verheiraten, den sie nicht wollen.»

Politischer Wille, juristische Barrieren
Obwohl Frauenrechtlerinnen seit Jahren das Thema aufwerfen, findet eine politische Diskussion in der Schweiz erst seit 2004 statt, angestachelt durch Debatten in Deutschland sowie eine Anfrage von Alt-SP-Nationalrat Boris Banga. Soeben hat das Parlament einer Motion der früheren FDP-Ständerätin Trix Heberlein von 2006 zugestimmt, die den Bundesrat beauftragt, verstärkt gegen Zwangsheiraten vorzugehen.

Entgegen den Empfehlungen der Regierung, die letzten November eine Situationsanalyse vorlegte, befürworten die Parlamentarier die Aufnahme eines separaten Zwangsheiratsartikels im Strafgesetz. Der Bundesrat erachtet den Artikel 181 des Strafgesetzbuchs, der die Beschränkung der Handlungsfreiheit durch Gewalt oder unter «Androhung ernstlicher Nachteile» als Straftat einstuft, als ausreichend. Die Motion Heberlein sah ursprünglich auch ein schärferes Vorgehen gegen arrangierte Ehen vor, doch wurden diese aus dem Wortlaut gestrichen. Aus juristischer Perspektive liegt bei einer arrangierten Heirat kein Zwang vor. Sie wird zwar ebenfalls durch Dritte vorbereitet, aber ohne Gewaltanwendung oder die sogenannte Androhung ernstlicher Nachteile.

Was heisst selbstbestimmt?
Die Zone zwischen Zwang und freiem Willen ist jedoch breit und grau. Wie selbstbestimmt ist Niroshas Ja, wenn sie von klein auf lernt, dass ihre Eltern die Auswahl der Heiratskandidaten festlegen werden? Und wird sie auch nach dem fünften Kandidaten noch nein sagen können? «Die Motive, einer Ehe zuzustimmen, müssen dem Staat egal sein, sofern die Betroffenen freiwillig handeln», erklärt Roberta Tschigg vom Bundesamt für Justiz. Um strafrechtlich vorzugehen, brauche man konkrete Hinweise auf eine Nötigung.

In den Parlamentsdebatten war die Streichung der arrangierten Ehen aus dem Gesetzesartikel umstritten. Auch diese würden oft unter grossem Druck der Familie geschlossen, wurde argumentiert. Dass indes auch Ehen unter Schweizern an gewisse Erwartungen geknüpft sind, rückte vorübergehend in den Hintergrund: Manch eine Familie macht keinen Freudensprung, wenn sich die studierte Tochter aus gutem Hause mit einem einfachen Hilfsarbeiter oder einem kongolesischen Asylsuchenden vermählt. Wie frei eine Entscheidung getroffen wird, ist letztlich eine Frage des subjektiven Empfindens.

Niroshas Mutter sieht in ihrer Art, die Töchter zu verheiraten, absolut keinen Zwang, nicht einmal von Druck mag sie sprechen. «Sie können mir ja sagen, wenn ihnen ein Mann nicht gefällt.» Sie versteht aber, weshalb diese Art der Partnervermittlung in der Schweiz auf Unverständnis stösst: «Hier darf man so viele Partner haben, wie man will. Und man geht davon aus, dass es für eine Heirat Liebe braucht. Wir aber denken, dass zuerst eine Freundschaft aufgebaut werden muss. Die Liebe kommt dann schon.» Dass die Zwangsverheiratung unter Strafe gestellt werden soll, befürwortet Shantha: «Die Beteiligten wollen nicht heiraten, das ist eine schlechte Ausgangslage. Sie werden eher Probleme bekommen und sich trennen.»

Bis heute hat es keine Verurteilung wegen Zwangsheirat gegeben, obwohl sie ein Offizialdelikt ist. «Niemand will seine Eltern vor Gericht bringen», sagt Chitra Russo, Leiterin der tamilischen Beratungsstelle Katpakam in Zürich. Die Sozialarbeiterin hat zahlreiche Mädchen begleitet, die sich gegen die Heiratspläne ihrer Eltern aufgelehnt haben. «Den Mädchen ist bewusst, dass sie sich durch ihr Handeln riesige Probleme schaffen. Diese wollen sie nicht noch verschärfen - sie haben ihre Eltern bereits genug enttäuscht.»

Gehorsam und Respekt vor den Eltern - damit wächst jedes tamilische Kind auf. Es lernt: Ich sollte nur glücklich sein, wenn auch meine Eltern glücklich sind. Die Vermittlung von Selbstbestimmung in den Schulen bringt es in ein Dilemma. Einige Kinder brechen aus, manche bezahlen dafür bitter. Die Beraterin Chitra Russo, selber in einem liberalen Elternhaus als Tochter eines Inders und einer Tamilin aufgewachsen, kennt Frauen, die den Kontakt zu ihren Familien abbrechen mussten, nachdem sie den Mann eigener Wahl geheiratet hatten. Sie kennt aber auch Eltern, die mit sich reden liessen. Längst nicht in allen Fällen ist der juristisch definierte Zwang im Spiel. «Einige Frauen empfinden aber auch arrangierte Ehen als Zwang», sagt Russo. «Sie müssen unterstützt werden, wenn sie sich dagegen wehren.»

Erfahrung kontra rosa Brille
Shantha hat eine einfache Erklärung, weshalb Eltern die Heiratskandidaten festlegen sollen. «Verliebte tragen eine rosa Brille und sehen die Gefahren für die Beziehung nicht», sagt sie. Eltern dagegen hätten eine kritische Distanz und könnten aus Erfahrung besser einschätzen, ob die Ehe gut verlaufen wird. Ein entscheidender Punkt aus ihrer Sicht: «Bei uns heiratet man nur einmal. Deshalb ist es wichtig, dass Ehepartner den gleichen Hintergrund haben.» Tochter Nirosha kann sich nicht vorstellen, einen Schweizer zu heiraten. «Schweizer Männer gehen viel mehr aus als Tamilen. Da ist die Gefahr gross, dass sie eine andere Frau kennenlernen.» Die hohe Scheidungsrate in der Schweiz ist für zahlreiche Tamilen Beweis genug, dass Ehen besser im eigenen Kulturkreis geschlossen werden sollten.

Ein geschiedener Tamile trägt ein lebenslanges Stigma, das auf die Familie abfärbt. Die Heiratschancen der ledigen Geschwister sinken. Eine geschiedene Frau wird, da sie nicht mehr Jungfrau ist, kaum noch einen Mann finden. Wie stark die moralische Verantwortung für das Eheglück auf den Frauen lastet, stellte auch Sozialwissenschaftlerin Marlène Schenk fest. Sie betreibt Forschung auf dem Gebiet der Zwangsheiraten in der Schweiz und ist nebenbei Koordinatorin des Programms «zwangsheirat.ch», das Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit leistet. Im Rahmen ihrer Lizentiatsarbeit hat sie 14 Frauen verschiedener Herkunft interviewt, die zwangsverheiratet wurden oder davor flüchteten. Schenk beobachtet, dass Mütter grossen Wert auf eine arrangierte Ehe legen, in einigen Fällen mehr als die Väter. «Wenn eine Mutter ihre Kinder gut verheiraten kann, sichert das ihren Status.» Schaffe sie es nicht, würde der Fehler hauptsächlich bei ihr gesucht. «Dann heisst es, sie habe die Kinder nicht gut erzogen.»

Nicht zuletzt um der Mutter und der ganzen Familie die üble Nachrede von Verwandten zu ersparen, beugen sich die Töchter und Söhne den elterlichen Vermählungsplänen. Auch Nirosha weist auf mögliche Einmischung aus dem Umfeld hin. «Wenn ich einen Mann vorschlagen würde, kämen gleich lauter Ratschläge und Fragen. Man würde seinem Hintergrund nicht trauen und meinen Eltern sagen, sie sollten sich durchsetzen.» Ihre Mutter hat denn auch die Federführung in der Kandidatensuche. Der Vater schaltet sich erst ein, wenn es darum geht, Informationen über den potentiellen Partner einzuholen.

«Einer gefällt mir bestimmt»
Der Druck der Gemeinschaft ist gross. Vor allem dort, wo Entscheidungen im Familienrat getroffen werden. Die Situation, eine Minderheit in einem fremden Land und sozioökonomisch benachteiligt zu sein, verleiht traditionellen Werten häufig zusätzlich Gewicht - die Identität sucht Halt. Die Einwanderer aus Sri Lanka bewegen sich auch nach einem Vierteljahrhundert in der Schweiz eher am Rande, wie eine Studie des Statistischen Amts der Stadt Zürich aufzeigt. Obwohl viele über ein hohes Bildungskapital verfügen, arbeiten rund 75 Prozent in der Gastronomie oder in der Reinigungsbranche. Auch Niroshas Vater, ursprünglich Architekt, ist in einem Partyservice angestellt. Die Mutter, in Sri Lanka als Kindergärtnerin tätig, ist Hausfrau und Abwartin.

Ein Grund dürfte darin liegen, dass die meisten sri-lankischen Einwanderer jahrelang nicht über den Flüchtlingsstatus hinauskamen und als vorläufig Aufgenommene kaum Arbeit ausserhalb dieser Branchen fanden. Derartige Schranken motivieren nicht gerade, die einheimische Sprache zu lernen. Chitra Russo beobachtet jedoch, dass die zweite Generation in der Schweizer Gesellschaft viel präsenter ist. «Die Eltern geben jeden Rappen für die Bildung ihrer Kinder aus. Sie wollen, dass sie es weiter bringen als sie selbst.»

Nirosha, die sich als «schon ziemlich schweizerisch» betrachtet, glaubt, dass erst ihre Kinder richtig dazugehören werden, da sie die Kinder stärker gemäss den hier herrschenden Werten erziehen kann. «Ich werde meine Kinder selbst ihre Partner wählen lassen. Sie sollen einfach zu unserer Familie passen», sagt sie. Dass ihre Eltern ihr wildfremde Männer vorschlagen, damit ist sie «nicht hundert Prozent einverstanden». Aber so sei es nun mal. Sie habe immerhin die Möglichkeit, sie erst kennenzulernen und allenfalls nein zu sagen. Und: «Bestimmt ist ein Mann darunter, der mir gefällt.»

Der Bund will handeln

Im Laufe der politischen Diskussion hat der Bund Handlungsoptionen gegen Zwangsheirat aufgezeigt; einige Massnahmen wurden bereits ergriffen.

  • Zivilstandswesen: Seit Anfang dieses Jahres müssen Zivilstandsbeamte Brautleute nicht trauen, wenn Hinweise auf eine Scheinehe bestehen und offensichtlich ist, dass die Eheschliessung der Umgehung des Ausländergesetzes dient. Der Bund arbeitet zudem zurzeit einen Entwurf aus, gemäss dem Zivilstandsbeamte verstärkt auf Zeichen von Zwangsheirat achten und auf die Notwendigkeit des freien Willens für die Eheschliessung hinweisen müssen.
  • Mindestalter: Eine Sofortmassnahme ist das Heraufsetzen des Mindestalters bei der Eheschliessung unter Ausländern - von bis anhin 16 Jahren auf 18 Jahre.
  • Prävention: Vorgesehen sind Informationskampagnen für Einwanderergemeinschaften und für Stellen, die im Fall einer Zwangsheirat aufgesucht werden können.