Heinz Pletscher weiss von nichts. «Korruption ist bei uns kein Thema, darüber redet man nicht einmal», sagt der Zentralpräsident des Schweizerischen Baumeisterverbandes. Pletscher, der «noch nie einen solchen Fall erlebt» hat und den Bau als «Opfer von Pauschalisierungen» sieht, steht mit seiner Aussage nicht allein da. Ob in Zürich oder im Aargau, für viele seiner Kollegen in den kantonalen Baumeisterverbänden gilt die Schweiz ebenfalls als bestechungsfreie Zone. Einzig den Umstand, dass bei öffentlichen Aufträgen hie und da mit persönlichen Beziehungen ein bisschen nachgeholfen wird, streitet man nicht ab. «Vitamin B gibt es natürlich, aber das ist keine Korruption. Das ist eher Qualitätssicherung», meint Pletscher.

Doch die hiesige Wirklichkeit ist nicht so unschuldig, wie sie von vielen präsentiert wird. Anschauungsunterricht liefert eine Affäre im Waadtland. Seit Anfang November 1996 laufen in Lausanne die Ermittlungen im Fall Mattiuzzo. Der Tiefbaufirma wurde eine Routinekontrolle der Steuerverwaltung zum Verhängnis. Die Beamten entdeckten zuerst eine Steuerhinterziehung und schliesslich Hinweise auf einen ausgewachsenen Korruptionsskandal. Der inzwischen in Konkurs gegangenen Firma wird vorgeworfen, der von der öffentlichen Hand kontrollierten Waadtländer Elektrizitätsgesellschaft SIE für das Ausheben von Gräben überhöhte Rechnungen gestellt zu haben. Ein korrupter Manager der SIE soll die Rechnungen akzeptiert und dafür einen Teil des zuviel bezahlten Geldes erhalten haben - sogenannte «Kickback»-Zahlungen.

Die Dimension des Bestechungsskandals wurde anfänglich auf mehrere 10'000 Franken geschätzt. Doch nach über eineinhalb Jahren steht fest, dass im ganz grossen Stil abkassiert wurde. «Es dürfte sich um mehrere 100'000 Franken handeln», bestätigt Untersuchungsrichter Nicolas Cruchet, der seit wenigen Monaten noch gegen weitere SIE-Kader ermittelt.

Riesige Dunkelziffer
Aufgrund seiner Erfahrungen in der jüngsten Affäre ist Cruchet inzwischen überzeugt, dass Mattiuzzo kein Einzelfall ist. «Im Bau besteht ein grosses Risiko für Korruption», sagt er, «wir hören regelmässig Gerüchte über weitere Fälle.» Es gebe andere Unternehmen, die solche Praktiken anwenden würden. «Aber es braucht zuerst einen Zeugen, der uns auf die Spur bringt», erklärt Cruchet. Er geht von einer hohen Dunkelziffer aus: «Es gibt viel mehr Korruptionsfälle, als man anhand der wenigen offiziellen Verfahren annehmen würde.» Die Fälle seien eben äussert komplex und sehr schwierig zu beweisen.

Zwar herrschen wegen der Vorfälle im Waadtland noch keine süditalienischen Sitten in der Schweiz. Aber spätestens seit dem Bekanntwerden der Bestechungsaffäre um den Zürcher Chefbeamten Raphael Huber ist auch klar, dass Korruption hierzulande durchaus ein Problem ist, das zudem massiv unterschätzt wird. «Obwohl die Schweiz nach wie vor international als wenig korruptes Land gilt, wird ein erhebliches Dunkelfeld vermutet», schreibt der Bundesrat in seinem Bericht zum neuen Korruptionsstrafrecht, das sich seit kurzem in der Vernehmlassung befindet. Der Bundesrat im Klartext: «Gerade im öffentlichen Beschaffungswesen weisen die Verfahren gewisse Transparenzdefizite auf, die leicht zur Bestechung missbraucht werden können.»

Die bestehenden Risiken werden auch von der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) bestätigt. Die EFK untersucht stichprobenweise die Durchführung von Submissionen, also die Vergabe von Bundesaufträgen. Das Fazit ist beunruhigend: «Die Gefahr für Korruption steigt», sagt EFK-Chef Peter Probst, «weil vielfach das Vier-Augen-Prinzip krass missachtet wird.» Das bedeutet, dass oft derselbe Beamte die Ausschreibung der Aufträge, die Vertragsunterzeichnung und die Abwicklung der Zahlungen betreut.

Verjährungsfristen erhöhen
Um potentielle Schmiergeldzahler abzuschrecken, soll im neuen Gesetz vor allem die aktive Bestechung zum Verbrechen aufgewertet werden. Damit verlängert sich bei dieser Straftat die bis heute zu kurze Verjährungsfrist. Dass diese geplanten Massnahmen vor allem auch auf die Baubranche zielen, ist ein offenes Geheimnis. Nicht nur im bundesrätlichen Bericht werden öffentliche Bauaufträge und Baubewilligungen als «besonders exponiert» bezeichnet.

Auch für den Strafrechtler und Korruptionsexperten Mark Pieth ist das Baugewerbe die Problemzone Nummer eins: «Der Staat ist der grösste Kunde, und es geht immer um riesige Summen. Da stellt sich für die Unternehmer regelmässig die Existenzfrage», erklärt der Basler Professor, der für den Bundesrat den Gesetzesentwurf ausgearbeitet hat. Tatsächlich stehen vor allem Tunnel- und Tiefbauunternehmen in einer massiven Abhängigkeit von der öffentlichen Hand, die ein faktisches Nachfragemonopol hat - wie etwa im Fall der Neat. Entsprechend gross ist die Versuchung, mit illegalen Mitteln an überlebenswichtige Aufträge zu kommen.

Die Schweizer Baubranche steckt zudem in einer massiven Strukturkrise, die jahrzehntelangen Kartellabsprachen sind weitgehend zerbröckelt. Der Konkurrenzkampf ist knallhart - ein fruchtbarer Boden für Korruption. Dass trotz diesem bestechungsfreundlichen Klima bei den Strafverfolgungsbehörden kaum Fälle hängig sind, ist eher Zufall als Beleg für die absolute Integrität von Schweizer Beamten und Unternehmern. Denn Erfahrungen im Ausland zeigen, dass die Verfahren plötzlich inflationär ansteigen können.

Explosionsartige Zunahmen
Als Vergleich bietet sich Deutschland an, das bis vor kurzem ebenfalls als weitgehend korruptionsresistent galt. Laut einer Studie von Pieth war bei der Staatsanwaltschaft München 1988 nur ein einziges Korruptionsverfahren hängig. 1991 waren es 30, 1996 stieg die Zahl explosionsartig auf 1200 Fälle.

Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich in Frankfurt. Beim Grossteil der Fälle handelt es sich um öffentliche Aufträge für das Baugewerbe. In beiden Städten löste erst die Aufdeckung eines Schlüsselfalls eine regelrechte Lawine aus. Eine Gesetzmässigkeit, die sogar für Italien gilt.

Die «mani pulite»-Aktion der Mailänder Staatsanwaltschaft begann ebenfalls mit einem einzigen Fall. Am 17. Februar 1992 überwachten die Ermittlungsbehörden die Ubergabe von sieben Millionen Lire an den Direktor einer örtlichen Fürsorgeeinrichtung in Mailand. Dem Unternehmer, der diesen Bestechungsbetrag für einen langjährigen Reinigungsauftrag bezahlen sollte, war laut Pieth «der Kragen geplatzt». Er hatte die Polizei benachrichtigt und damit eine Ermittlungslawine losgetreten, die Hunderte von Unternehmern, dazu Bürgermeister, Parteikader und Minister vor den Richter brachte.

Regelungen im stillen
Dass auch hinter helvetischen Kulissen deutlich mehr geschmiert wird als offizell bekannt, zeigen auch erste Zwischenergebnisse des Nationalforschungsprojekts (NFP) «Gewalt im Alltag und organisierte Kriminalität». Laut Pieth, der die Expertengruppe NFP 40 präsidiert, haben Genfer Forscher in einem Teilprojekt zum Thema Korruption Brisantes entdeckt. In den Kantonen Wallis, Waadt und Genf gab es zwar in den letzten zehn Jahren nicht viele Strafverfahren, dafür aber um so mehr verwaltungsinterne Fälle.

Die Beamten regeln folglich Fehltritte der Kollegen lieber unter sich. Von Verwarnungen bis zur Entlassung kommt alles vor. Hauptsache ist, dass die jeweilige Affäre unter dem Teppich bleibt. Eine Anzeige bei der zuständigen Strafverfolgungsbehörde schafft nur unangenehme Publizität und ist darum äusserst selten.

Doch nicht nur Strafrechtler, Ermittler und Forscher attestieren der Baubranche eine gefährliche Schwäche für illegale Geschenke. Zwar sind Pletscher & Co. immer noch in der Mehrheit, aber an der Baufront zeigt die Mauer des Schweigens erste Risse. Zur Klartextfraktion gehört etwa Ernst Stebler, Zentralpräsident des Schweizerischen Baukaderverbands. «Man hört immer wieder von solchen Fällen», sagt Stebler. Er ist überzeugt, dass «im Bau nicht regelmässig, aber gezielt geschmiert wird».

Auch der Luzerner Bauingenieur Peter Mühlemann spricht aus, was immer mehr denken: «Korruption spielt im Schweizer Baugewerbe eine wichtige Rolle.» Als Präsident des kantonalen Gewerbeverbands hat er darum diesen Frühling kurzerhand Mark Pieth zu einem Vortrag eingeladen. Laut Mühlemann, der «eben nicht zur Mafia gehört» und «auch nicht Golf spielt», gibt es genügend Indizien: «Zum Beispiel stelle ich fest, dass wir aus unerklärlichen Gründen bei gewissen öffentlichen Auftraggebern nie eine Chance haben, auch dann nicht, wenn wir ausnahmsweise offerieren dürfen und unser Angebot das günstigste ist.»

Für den Luzerner besteht beispielsweise bei den Planern ein grosses Korruptionspotential. Diese erstellen im Auftrag der öffentlichen Hand Leistungsverzeichnisse für die Submission. «Damit können sie durch gezielte selektive Informationen an befreundete Bauunternehmer bewirken, dass deren Offerte tief ausfällt und sie trotzdem einen Gewinn erzielen», erklärt Mühlemann. Bei einer ausgeschriebenen Bachsanierung etwa weiss dann nur ein Unternehmer, dass die Anzahl Bordsteine viel zu hoch angegeben ist. Er kalkuliert mit weniger Steinen und ist damit automatisch billiger. Die Beute wird im nachhinein mit dem Planer geteilt.

Ob in Luzern oder anderswo: Für eine «mani pulite»-Bewegung fehlen noch die entscheidenden Beweise. Doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass auch hierzulande bald einem Unternehmer der Kragen platzt. Dann hat auch dieser Sonderfall ein Ende.