Der Kinderschänder René Osterwalder und seine Freundin A. S. wurden 1998 vom Zürcher Geschworenengericht dafür verurteilt, zwei Kleinkinder im Alter von sieben Monaten respektive einem Jahr aufs Grausamste gequält zu haben. Das Paar hatte Nadelstiche und Stromstösse eingesetzt und die wehrlosen Geschöpfe bis beinahe zum Ertrinkungstod unter Wasser getaucht. Derart hatten die beiden ihre sexuell-sadistischen Bedürfnisse befriedigt.

Der Gerichtsgutachter liess keinen Zweifel daran: Die Folterungen, die zum Teil mehrere Stunden gedauert haben, können tiefe, nachhaltige Spuren bei den Kindern hinterlassen. Diese vermögen solche Vorgänge nicht einzuordnen und leiden darum stärker darunter als Erwachsene. Die grausame Erinnerung kann wieder hochkommen, besonders in der Pubertät.

Die Auszahlung einer Genugtuung für beide Kinder war nie umstritten: Mit 160'000 Franken für das zweimal gefolterte Kind und 80'000 Franken für das einmal misshandelte erreichte sie, völlig zu Recht, einen Rekord. Osterwalder, Inhaber eines florierenden Unternehmens, konnte zum Teil selbst zur Kasse gebeten werden.

Verfügt ein Täter über keine Finanzmittel, muss der Staat einspringen. Dazu verpflichtet ihn das Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten, kurz: Opferhilfegesetz, das seit 1993 in Kraft ist. Dieses Gesetz hat der Beobachter mit einer Initiative erst ermöglicht.

Doch nun ist eine Reihe von Kantonen daran, zurückzubuchstabieren: Sie möchten die Opferhilfe einschränken. Zwar sollen die Entschädigungen für finanziell messbare Einbussen des Opfers, wie etwa Therapiekosten und Einkommensausfälle, beibehalten werden. Dafür wollen die Kantone bei den Genugtuungen sparen. Diese werden bei psychischen Schädigungen und Einbussen an Lebensqualität ausgesprochen. Nur: Die Genugtuungen sind in der Praxis viel höher als die Entschädigungen, und sie kommen in der Regel den Schwachen der Gesellschaft zugute – Frauen und Kindern.

Hohe Ausgaben für die Täter
So erhalten bei Vergewaltigungen und Kindsmissbrauch die Opfer nur Genugtuungen. Setzen sich die Sparer durch, so würden schwer misshandelte Kleinkinder künftig leer ausgehen, wenn der Täter mittellos ist. Ein 15-jähriges Mädchen, das vor zwei Jahren in der Ostschweiz von zwei Jugendlichen vergewaltigt wurde und schwere seelische Schädigungen davontrug, erhielt 12'000 Franken Genugtuung zugesprochen – offenbar zu viel nach Ansicht der Knauser.

Dagegen lässt sich der Staat die Bestrafung der Täter einiges kosten. René Osterwalder zum Beispiel sitzt eine 17-jährige Zuchthausstrafe ab; die Verwahrung auf unbestimmte Zeit ist angeordnet. Jeder Tag im Gefängnis kostet die Steuerzahler 300 Franken. Verbüsst der Täter die Strafe im Hochsicherheitstrakt, schlägt das mit dem doppelten Betrag zu Buche. Die Prozesskosten können ausserdem schon mal 100'000 Franken übersteigen; auch sie werden von den Steuerzahlern beglichen.

Relativ geringe Einsparungen
Anderseits hätte selbst die vollständige Streichung der Genugtuungen eine lächerlich geringe Auswirkung auf die Finanzen der Kantone. Gesamthaft geben sie jährlich rund 23 Millionen Franken für die Opferhilfe aus. Davon erhalten die Opfer rund 7,5 Millionen Franken an Genugtuungen und 1,4 Millionen an Entschädigungen.

Auf 14 Millionen Franken belaufen sich pro Jahr die Kosten für Soforthilfen und Beratungen. In den 65 anerkannten Opferhilfestellen der Schweiz führten die Fachleute im Jahr 2000 nicht weniger als 16'821 Beratungen durch, 12'179 davon für Frauen und Mädchen.

Ruedi Strahm, Leiter der Opferhilfestelle Bern, warnt vor einem Sparkurs: «Alle Fachleute, die in der Opferhilfe tätig sind, halten die Reduktion oder den Wegfall der Genugtuung für eine Katastrophe.»

Gleicher Meinung ist Regula Müller von der Opferhilfe Winterthur. Sie sieht bereits Ansätze einer Demontage: Bei der Bewilligung von Genugtuungen harze es schon jetzt.

Der Zürcher Rechtsanwalt Viktor Kletzhändler doppelt nach: «Mit Sicherheit wird nie ein Franken zu viel bezahlt.»

Regula Müller betont, dass die Genugtuung neben der finanziellen auch eine ideelle Bedeutung für das Verbrechensopfer habe. Mit der Genugtuung anerkenne der Staat, dass dem Opfer Unrecht widerfahren sei. Die seelischen Verletzungen würden damit ernst genommen und nicht mehr in die Nähe von Hirngespinsten gerückt.

Hilfe zur Problembewältigung
Abgesehen davon erlaubt die Genugtuung oft auch Massnahmen, die den Opfern die Bewältigung ihrer Probleme ermöglichen. Die auf Opferhilfe spezialisierte Zürcher Anwältin Cornelia Kranich Schneiter nennt drei Beispiele:

  • Eine allein erziehende Mutter von drei Kindern ist nach einem sexuellen Übergriff nervlich am Ende. Dank der staatlichen Genugtuung kann sie sich betreute Ferien in einem Kinderhotel leisten.
  • Eine junge Frau wird durch die Ermordung ihres Vaters aus der Bahn geworfen. Dank der staatlichen Genugtuungszahlung kann sie Privatunterricht nehmen und eine Ausbildung abschliessen.
  • Ein sexuell missbrauchtes Kind hat sich schon lange sehnlichst einen Computer gewünscht. Dessen Anschaffung können sich die Eltern jedoch nicht leisten. Die Genugtuungszahlung ermöglicht den Kauf.


Trotz der positiven Erfahrungen der Fachleute sind die Genugtuungen dennoch umstritten. Auch in der Expertenkommission, die ihren Bericht zur Revision des Opferhilfegesetzes Ende Juni Justizministerin Ruth Metzler abgeben wird. Zwar verweisen die Kommissionsmitglieder auf ihre Schweigepflicht. Doch ist bereits durchgedrungen, dass die Hardliner mit der Abschaffung der Genugtuung ernst machen wollen.

Bei ihrer Argumentation können sich die Sparer auf den Wortlaut des Opferhilfegesetzes stützen. So hat das Opfer gemäss Gesetzestext Anrecht auf Entschädigung für den durch die Straftat erlittenen Schaden, falls es nicht in sehr guten materiellen Verhältnissen lebt. Im gleichen Artikel steht auch die folgende Bestimmung: «Dem Opfer kann unabhängig von seinem Einkommen eine Genugtuung ausgerichtet werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen.»

Grosser Ermessensspielraum
Entscheidend ist das kleine Wort «kann». Daraus schliessen die Sparer, dass das Schwergewicht auf den Entschädigungen liegen müsse, während die Genugtuung ein fakultatives Anhängsel sei.

Juristen unterstützen diese Sicht der Dinge. So stellte das Bundesamt für Justiz im Mai 2000 fest: «Die Rechtswirklichkeit entspricht nicht den Vorstellungen des Gesetzgebers.» Und es präzisierte: «Den Normalfall bilden nicht die auf das Einkommen und auf den nicht gedeckten Schaden abzustimmenden Entschädigungen, sondern die Genugtuungen, die sich an den erlittenen Beeinträchtigungen orientieren: Nur zehn Prozent aller 1998 ausgerichteten Leistungen waren Entschädigungen ohne Genugtuungskomponenten.»

Für Anwältin Cornelia Kranich Schneiter kommt die Verschiebung von der Entschädigung zur Genugtuung nicht von ungefähr: «Die Opferhilfe bezahlt nicht jeden deliktsbedingten Schaden. Sachschaden zum Beispiel gehört nicht dazu. Zudem wird nur eine Entschädigung bezahlt, wenn keine Versicherungsleistungen erhältlich sind. Heute verlangen die Opferhilfebehörden strikte den Rückgriff auf die Versicherungen. Dass Schweizerinnen und Schweizer gut versichert sind, entlastet daher die Zahlungen der staatlichen Opferhilfe.»

Das ist erfreulich für die Opfer, kann aber keine Legitimation für Abstriche bei den Genugtuungen sein. Die Knauser in den Kantonen wollen nicht das Gesetz der Wirklichkeit anpassen – also die «Kann»-Formulierung streichen –, sondern die Wirklichkeit dem Gesetz. Das bedeutet: Missbrauchte Kinder und vergewaltigte Frauen sollen leer ausgehen, bei Angehörigen von Verbrechensopfern soll drastisch gespart werden.

Kann dies der Sinn des Opferhilfegesetzes sein?