«Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich», besagt Artikel 8 der Bundesverfassung. Ein edles Prinzip – doch es gibt Ausnahmen: Artikel 162 regelt die Immunität, den Schutz vor Strafverfolgung. Noch angehen mag, dass alle Reden im Bundesparlament straffrei bleiben, da dies der freien Debatte der Volksvertreter dient. Hoch problematisch ist aber der folgende Gummiparagraf: Per Gesetz können andere Formen der Immunität für weitere Personen beschlossen werden.

Dieses Hintertürchen wurde denn auch genutzt, um staatliche Würdenträger vor dem Gesetz zu schützen. Grundsätzlich unberührbar für die Justiz sind die Bundesräte, die Bundeskanzlerin und die Bundesrichter selber. Das gilt für Straftaten im Amt wie auch für rein private Verbrechen und Vergehen. Ob falsches Parken oder Mord – ein Bundesrat ist vor Strafe sicher, bis Regierung oder Parlament seine Immunität aufheben. Sogar wenn er auf frischer Tat ertappt würde, könnte die Polizei ihn nur während 24 Stunden im Gefängnis behalten – eine längere Haft müssten entweder er selber oder die Kollegen in der Landesregierung bewilligen.

Pikanterweise profitiert gegenwärtig Justizminister Christoph Blocher, früher ein unermüdlicher Kritiker der privilegierten «classe politique», von der Immunität. Vor einer Woche lehnte es der Bundesrat ab, die Immunität des neuen Regierungskollegen aufzuheben. Die ungestörte Ausübung des Mandats als Bundesrat habe Vorrang vor dem Interesse an einer Strafverfolgung, fand die Landesregierung.

Blocher drohte ein Strafverfahren wegen Verleumdung. Er hatte in einem Zeitungsartikel den früheren Zürcher FDP-Kantonsrat Jean-Jacques Bertschi als Musterbeispiel für einen «Profiteur» bezeichnet und behauptet, Bertschi sei «bequemerweise» Mitglied der Bildungskommission des Kantonsrats gewesen «und hatte so Gewähr für immer neue Staatsaufträge für seine private Schulungsfirma». «Blocher lügt», entgegnet Bertschi. «Ich erhielt als Mitglied der Bildungskommission keinen einzigen Staatsauftrag.»

Parlamentarier-Immunität meist intakt
Wäre Blocher ein gewöhnlicher Bürger, hätten die Gerichte klären müssen, ob er gelogen und Bertschis Ehre verletzt hatte. Justizminister Blocher fühlte sich dagegen gleich doppelt unantastbar: Weil er die Äusserung noch als Nationalrat gemacht hatte, gelte zusätzlich zur bundesrätlichen auch noch die parlamentarische Immunität, argumentierte sein Anwalt.

Möglich ist nun noch ein Rekurs an die Bundesversammlung, aber diese hat Blocher eben erst in den Bundesrat gewählt. «Die Gerechtigkeit wird zum Spielball der Politik», kommentiert Bertschi. Ihn ärgert vor allem, dass Blocher seine Behauptung mehrmals wiederholt hat und sie noch heute auf seiner Internetseite präsentiert. «Wie soll der Bürger die Justiz respektieren, wenn Justizminister Blocher ungestraft und wiederholt verleumden darf?» Der Justizminister beantwortet weder diese noch andere Fragen. «Er äussert sich gegenwärtig dazu nicht», sagt sein Sprecher Livio Zanolari.

Blocher profitiert nicht zum ersten Mal von Politikerprivilegien. Bereits 1994 und 2001 schützte das Parlament seine Immunität. Ebenso tolerant entschied das Parlament in anderen Fällen (siehe «Immunitätsfälle»). Seit dem Zweiten Weltkrieg hob es die Immunität eines einzigen Nationalrats auf: jene des streitbaren Linken Jean Ziegler. «Das Parlament entscheidet Immunitätsfragen letztlich politisch», kritisiert die Zürcher Anwältin und Staatsrechtlerin Isabelle Häner Eggenberger. Sie plädiert dafür, die Immunität auf ihren Kern zu beschränken: Straffreiheit für Reden im Parlament und bei Regierung und Richtern für die Amtstätigkeit.

Straffreiheit auch als Privatperson
Bisher scheiterten die zaghaften Versuche, die Immunität einzuschränken, am Widerstand des Parlaments. Dies obwohl der Bundesrat 1999 bereit war, auf die Immunität für private Straftaten der Regierungsmitglieder zu verzichten: «Ausserhalb der amtlichen Tätigkeit ist eine unterschiedliche Behandlung von Mandatsträgern und anderen Personen nicht gerechtfertigt», argumentierte die Regierung – vergeblich.

Der Zuger Ständerat Rolf Schweiger (FDP), damals für eine Einschränkung der Immunität, verteidigt sie heute: «Ohne Schutz droht eine Lähmung des politischen Systems durch missbräuchliche Klagen.»

Gegenbeispiel ist die Stadt Bern. Dort kennt man keine derartigen Regeln. «Die fehlende Immunität war für die Stadtbehörden bisher kein Problem», sagt Stadtschreiberin Irène Mäder. Auch die Zürcher SP-Nationalrätin Barbara Marty Kälin hat kein Verständnis für die fein abgestuften Schutzvorschriften zugunsten der Politiker und Politikerinnen: «Ich will als Nationalrätin nicht mehr Rechte als die Menschen, die mich gewählt haben.»

Auf Bundesebene bleiben dagegen sogar die uralten Zöpfe unangetastet: So kann ein Parlamentarier während der Parlamentssession nicht einmal wegen Kapitalverbrechen verhaftet werden. Es sei denn, er selber oder seine Parlamentskammer wären mit der Verhaftung einverstanden. Der historische, längst vergessene Hintergrund: Vor mehr als 150 Jahren eroberten die Konservativen im Kanton Bern die Macht. Die mehrheitlich liberalen Bundespolitiker fürchteten willkürliche Übergriffe der Kantonsbehörden. Die sind heute aber kaum noch zu erwarten.

Quelle: Franco Greco