«I fuck you right now!», sagte er. Sie hätte das vielleicht weggesteckt, den Raum verlassen und sich bei der Zentrumsleitung beschwert. Doch die Betreuerin konnte nicht. Der Flüchtling hatte die Frau in der Waschküche der Asylunterkunft eingeschlossen. Er drückte sie an sich, strich über ihre Brüste und fasste ihr zwischen die Beine. «Stop this right now!», forderte die Frau und verlangte mehrmals nach dem Schlüssel, der nicht mehr im Schloss steckte. Doch ihr Peiniger und ein anderer Flüchtling im Raum grinsten bloss. Da sah sie etwas Metallisches, halb versteckt unter einem Stapel Wäsche: den Schlüssel. Sie stiess den Täter weg, griff nach dem Schlüssel, öffnete die Tür und floh aus dem Raum. Sie war ausser sich und zitterte. Der Zentrumsleiter musste sie beruhigen, bis sie den Vorfall überhaupt schildern konnte.

«Ich hatte Todesangst», erzählt die 39-Jährige heute, über zwei Jahre nach dem Übergriff Sexuelle Belästigung Das Opfer sagt, wo die Grenze ist . Sie sei in eine Falle gelockt worden. Sie war kurz vor dem Übergriff in der Waschküche, um etwas an der Maschine zu kontrollieren. Auch die beiden Männer waren dort. Der eine löste Hausaufgaben an einem Tisch, worauf der zweite ebenfalls ein Aufgabenblatt wollte. Die Betreuerin verliess die Waschküche, um das Blatt zu kopieren. Als sie zurückkehrte, verschloss der Täter hinter ihr die Tür.

Es kommt zum Prozess

Den Übergriff meldete der Zentrumsleiter der Polizei. Der Täter wurde verhaftet, die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Verfahren. Später stellte das Zentrum der Frau einen Anwalt zur Seite.

Der Staatsanwalt ermittelte wegen versuchter Vergewaltigung oder sexueller Nötigung. Weil es sich um Offizialdelikte handelt, der Staat also von sich aus den Fall untersuchen muss, hätte es die Frau bei einer Strafanzeige belassen können. Doch damit sie im Verfahren auch Eingaben machen, bei Befragungen dabei sein und allenfalls gegen ein Urteil Berufung einlegen konnte, musste sie als Mitklägerin auftreten. 

«Wir machten das, damit sie im Verfahren sämtliche Parteirechte geltend machen kann», sagt ihr Anwalt Andreas Meili. In seinem Plädoyer beantragte er – wie die Staatsanwaltschaft – eine Bestrafung wegen versuchter Vergewaltigung oder sexueller Nötigung, zudem wegen Freiheitsberaubung. Darüber hinaus verlangte er eine Genugtuung von 5000 Franken für das Opfer Opferhilfe Die Unterstützung «danach» .

 

«Viele Opfer ringen mit sich, um überhaupt Anzeige zu erstatten. Wenn sie mit hohen Kosten rechnen müssen, schreckt das zusätzlich ab.»

Susanne Nielen, Aargauer Beratungsstelle Opferhilfe

 

Das Bezirksgericht Laufenburg AG folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft, verurteilte den aus dem Sudan stammenden Flüchtling wegen versuchter Vergewaltigung und verhängte eine 18-monatige Freiheitsstrafe. Dagegen wehrte er sich. 

Vor dem Aargauer Obergericht verlangte er einen Freispruch. Der Staatsanwalt und das Opfer verzichteten auf eine Berufung, hielten aber an ihren bereits vor dem Bezirksgericht gestellten Anträgen fest. «Ich konnte ja mit dem ersten Urteil zufrieden sein. Es gab keinen Grund, etwas anderes zu verlangen», sagt die Frau.

Das Obergericht analysierte akribisch die Aussagen des Täters, des Opfers und des zweiten Mannes im Raum. Wie die Vorinstanz kam es zum klaren Schluss: Die Darstellung des Täters ist widersprüchlich, in wesentlichen Punkten sogar nachweislich falsch. 

So hatte der Mann behauptet, die Frau nie berührt zu haben. Doch eine Untersuchung des Kantonsspitals Aarau wies DNA-Spuren nach, auf der Hose im Bereich zwischen den Beinen und auf dem Pullover im Brustbereich. Sie stammten mit grosser Wahrscheinlichkeit vom Beschuldigten.

Falsche Altersangabe

Weiter behauptete er, er habe die Tür hinter der Frau nur verschlossen, um zu verhindern, dass die Leute «etwas sagen oder denken» könnten. Später behauptete er, die Türe abgeschlossen zu haben, weil das eine Weisung der Zentrumsleitung verlange, wenn sich jemand in der Waschküche befinde. Widersprüchlich auch seine Aussagen zum Schlüssel: Einmal will er ihn im Schloss stecken gelassen haben. Dann hat er ihn abgenommen, der Frau aber auf ihr Verlangen sofort übergeben. In der Untersuchungshaft meinte er, er sei erst 15 Jahre alt Migration Herkunft von Asylbewerbern: Lüge oder Wahrheit? . Eine forensische Abklärung ergab ein realistisches Alter von über 22 Jahren.

Der Zeuge, der in der Waschküche Aufgaben löste, trug kaum etwas zur Erhellung der Vorgänge bei. Er war mit dem Bruder des Täters befreundet und schuldete diesem Geld. Weder die Version des Angeschuldigten noch die der Frau wollte er bestätigen.

Das Gericht wertete die Darstellung des Opfers als sehr glaubwürdig: «Es gibt keine Hinweise darauf, dass etwas der Fantasie der Strafklägerin entsprungen sein könnte.»

Im Zweifel für den Angeklagten

Trotzdem beurteilte das Obergericht in Aarau den Fall anders als die Vorinstanz. Mit seiner Aussage «I fuck you right now!» und den Berührungen des Opfers habe der Beschuldigte zwar seine Absicht klar zum Ausdruck gebracht. Nachdem die Frau ihn jedoch weggestossen hatte, habe er weder mit Gewalt noch mit Drohungen versucht, sein Vorhaben umzusetzen. Nach dem Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten» erkannte das Gericht darum keine Vergewaltigungsabsicht.

Eine sexuelle Nötigung ist für das Aarauer Obergericht ebenfalls nicht erwiesen. «Zum Zeitpunkt des Griffs an die Brust und in den Schritt war die Strafklägerin zwar eingesperrt», so die Richter. Doch die Frau habe das in diesem Moment noch gar nicht realisiert, sondern erst kurz darauf, heisst es im Urteil. Der Beschuldigte habe ausserdem weder Gewalt angewandt noch das Opfer bedroht oder zum Widerstand unfähig gemacht. Es fehle daher das für den Tatbestand erforderliche «Nötigungsmittel».

Straflos kam der Mann aber nicht davon. Die sexuell motivierten Berührungen der Geschlechtsteile der Frau erfüllten den Tatbestand der sexuellen Belästigung. Dafür kassierte er eine Busse von 2000 Franken. Und er muss dem Opfer 3240 Franken Entschädigung bezahlen. Weil der Flüchtling kein Geld hat, wartet sie bis heute darauf.

«Ein verheerendes Signal für alle Opfer»

Die deutlich reduzierte Strafe für den Täter kann das Opfer akzeptieren. «Ich bin keine Juristin. Und offenbar beurteilen verschiedene Juristen den gleichen Vorgang sehr unterschiedlich.»

Und doch ist das Urteil wie ein Schlag ins Gesicht der Frau. Sie muss einen wesentlichen Teil der Anwaltskosten des Flüchtlings und der Verfahrenskosten vor Obergericht bezahlen. Konkret: zwei Fünftel der Gesamtkosten, rund 3000 Franken. 

«Das ist grotesk», sagt Anwalt Meili. Eine Kostenbeteiligung sei höchstens gerechtfertigt, wenn der Täter völlig freigesprochen worden wäre. Aus Sicht der Aargauer Beratungsstelle Opferhilfe ist das Urteil ein verheerendes Signal für alle Opfer von Sexual- und Gewalttaten. «Viele müssen schon mit sich ringen, um überhaupt Anzeige zu erstatten und das ganze Geschehen noch einmal aufzurollen. Wenn sie nun auch noch mit hohen Kosten rechnen müssen, schreckt das zusätzlich ab», sagt Beraterin Susanne Nielen.

2015 verneinte das Bundesgericht in einem vergleichbaren Fall die Kostenpflicht für eine Klägerin. Die Aarauer Richter hätten also die Gesamtkosten dem Täter auferlegen oder auf die Staatskasse nehmen können.

Kein Geld für die Berufung

«Natürlich wäre es interessant, mit diesem Fall vor Bundesgericht zu ziehen», sagt der Anwalt der Betreuerin. Das wäre aber mit einem Kostenrisiko verbunden, das sich die Frau nicht leisten kann. Das Opferhilfegesetz Opferhilfe Immer weniger Geld für die Betroffenen greift hier nicht. Es garantiert zwar Betroffenen und Angehörigen, dass keine Kosten im Verfahren anfallen. In der Regel aber nur für erstinstanzliche Gerichtsverfahren. 

Nach dem ungerechten Urteil setzte sich die Aargauer Beratungsstelle Opferhilfe weiter für die Flüchtlingsbetreuerin ein. Mit einem erfreulichen Resultat: Der Kanton ist bereit, die ihr vom Gericht auferlegten Kosten zu übernehmen. 

Ihren Job hat die Frau verloren. Und das Zentrum in Laufenburg wurde wegen weniger Asylgesuchen geschlossen. Sie kann sich weiter vorstellen, mit Flüchtlingen zu arbeiten. «Es müsste aber ein Job mehr im administrativen Bereich sein.» Ein solches Angebot hat sie bis jetzt nicht erhalten.

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Peter Johannes Meier, Ressortleiter
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