Beobachter: Sie haben als Rechtsanwältin immer wieder damit zu tun, dass Frauen zur Hochzeit gezwungen wurden. Wie läuft das ab?
Yvonne Meier: Ein Beispiel: Die 20-jährige Yasmin* fuhr 2009 mit ihren Eltern in die Ferien in den Kosovo. Das ist ihr Heimatland, aber Yasmin lebt seit zehn Jahren in der Schweiz, ist gut integriert, spricht perfekt Schweizerdeutsch und hat einen festen Job. In jenen Kosovo-Ferien wurde sie gezwungen, einen ihr völlig fremden Mann zu heiraten.

Beobachter: Wer hat sie gezwungen?
Meier: Die ganze Familie – Mutter, Vater, Onkel, Tanten. Die haben im Kosovo auch die Hochzeit organisiert. Ein Onkel der Braut erhielt dafür 100 Euro und ein Hemd. Mit der Heirat wollte man dem Ehemann eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz verschaffen.

Beobachter: Sind Aufenthaltsbewilligungen das häufigste Motiv für eine Zwangsheirat?
Meier: Nein. Meist geht es darum, die «Familienehre» zu wahren und die Tochter zu kontrollieren. Die Eltern begründen die Zwangsheirat teilweise damit, dass auch sie nicht wählen konnten und dass sie ihr Kind vor westlichen Einflüssen schützen wollen.

Beobachter: Vor welchen westlichen Einflüssen?
Meier: Dass Mädchen sich allein mit Jungen in der Öffentlichkeit zeigen, in den Ausgang gehen, sich schminken oder sich freizügig kleiden. Oft gibt es aber für eine Zwangsheirat verschiedene Motive – es können auch finanzielle Gründe sein. Eine verheiratete Tochter belastet das Familienbudget nicht mehr. Rein religiöse Motive sind hingegen eher selten.

Beobachter: Wann hat sich Yasmin gegen ihre Ehe gewehrt?
Meier: Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz verdrängte sie die Heirat vorerst. Der Ehemann war ja weit weg im Kosovo. Erst als ihr Vater sie zwingen wollte, ein Gesuch um Familiennachzug für den Ehemann zu unterschreiben, wurde ihr bewusst, was auf sie zukommt. Dann hat sie bei einem Lehrer Hilfe gesucht, der sie an die Opferhilfestelle verwies.

Beobachter: Konnte man ihr helfen?
Meier: Migrationsbehörden und Zivilstandsamt haben sich im Geheimen mit Yasmin abgesprochen, um den Familiennachzug für ungültig zu erklären. Vorübergehend verliess sie auch ihre Familie und wohnte in einer geschützten Institution. Aber am Schluss hat sie einen Rückzieher gemacht.

Beobachter: Yasmin akzeptierte also die Zwangsheirat?
Meier: Ja. Sie hat wohl realisiert, dass sie sonst den Rückhalt der ganzen Familie verlieren würde. Und für viele Migrantinnen ist die Familie das allerwichtigste soziale Netz. Yasmin sagte mir, sie könne ihren Ehemann ja über Facebook besser kennenlernen und sich später entscheiden. Seither habe ich keinen Kontakt mehr und weiss nicht, was aus der Ehe geworden ist.

Beobachter: Machen viele Frauen solche Rückzieher?
Meier: Es ist der einzige Fall, mit dem ich zu tun hatte. Alle anderen Frauen konnte ich in Zusammenarbeit mit den Behörden entweder vor einer Zwangsheirat bewahren oder ihnen helfen, sich dauerhaft aus der Ehe zu lösen. Sei es, dass die Familie eingelenkt hat oder die Frau ausgezogen ist und nun selbständig lebt. Eine Loslösung braucht aber sehr viel Unterstützung, weil es für die Frauen schon sehr hart ist, sich in der Schweiz ein eigenes Leben ohne Hilfe einer Familie aufzubauen.

Beobachter: Das hindert viele Frauen, sich gegen eine erzwungene Heirat zu wehren.
Meier: Ja, aber es gibt auch andere Gründe. Ich maile seit mehr als einem Jahr mit einer 21-Jährigen, der eine Zwangsheirat droht. Sie will die Familie nicht verlassen, weil der Vater gewalttätig ist. Sie will ihre jüngeren Geschwister und ihre Mutter nicht im Stich lassen.

Beobachter: Da können Sie nichts machen?
Meier: Alle Bemühungen waren bisher erfolglos. Mit Hilfe von Psychologen versuchten wir die Mutter der Klientin zu überzeugen, sich von ihrem Mann zu trennen.

Beobachter: Sind es vor allem Frauen aus Ex-Jugoslawien, die unter Zwangsheirat leiden?
Meier: Nein, nicht nur. Die Opfer stammen aus allen Gegenden der Welt – Sri Lanka, afrikanische Staaten, Türkei, Pakistan et cetera. Und sie gehören allen Weltreligionen an – Islam, Hinduismus, Buddhismus oder auch Christentum. Und übrigens sind auch Männer davon betroffen.

Beobachter: Männer melden sich auch?
Meier: Ja, zur Heirat werden ja immer zwei gezwungen. Aber weniger häufig. Sie sind einerseits «Profiteure» der Zwangsheirat – weil sie dann eine «Bedienstete» haben, die ihnen den Haushalt macht. Anderseits akzeptieren es Eltern eher, wenn sich ein Sohn gegen eine Heirat wehrt.

Beobachter: Wie kann man Frauen und Männern besser helfen, wenn sie sich gegen eine Zwangsheirat wehren wollen?
Meier: Lehrer, Behörden, Polizei- und Spitalangestellte müssen für das Thema sensibilisiert werden, damit sie erkennen, wenn eine Frau unter einer erzwungenen Heirat leidet. Zudem braucht es mehr niederschwellige Anlauf- und Beratungsstellen für Opfer und eine gut organisierte Nachbetreuung. Eine Frau, die sich gegen eine Zwangsheirat wehrt, wird oft von der Familie verstossen. Sie muss also von einem Moment zum andern selbständig wohnen, arbeiten und ein neues soziales Netz aufbauen. Diese Entwicklung dauert lange und muss begleitet werden. In Deutschland gibt es dafür eine ganze Reihe von spezialisierten Einrichtungen, von Mädchenhäusern bis hin zu betreuten Wohngemeinschaften.

Beobachter: Und in der Schweiz?
Meier: In der Schweiz existieren noch zu wenig Einrichtungen, die Betroffene – besonders auch unmündige Mädchen – über einen längeren Zeitraum hinweg begleiten.

Beobachter: Hilft da der neue Gesetzesvorschlag des Bundesrats?
Meier: Nein. Der regelt die Nachbetreuung nicht. Der Bundesrat will aber ein Konzept ausarbeiten, um die Prävention und den Schutz vor Zwangsheiraten zu verstärken.

Beobachter: Was bringt denn der Gesetzesvorschlag?
Meier: Wer zur Heirat gezwungen wurde, erhält neu vom Gesetz ausdrücklich ein eigenständiges Bleiberecht. Das bedeutet, dass die betroffene Person sich aus der erzwungenen Ehe lösen kann und die Schweiz nicht verlassen muss, auch wenn die Ehe noch nicht drei Jahre gedauert hat. Das kann sie aber nur, wenn die Rückkehr in das Heimatland nicht zumutbar ist. Diese zusätzliche Voraussetzung ist problematisch. So müssen Frauen manchmal genau in jene Gesellschaft und zu genau jenen Leuten zurück, die sie zur Heirat gezwungen haben.

Beobachter: Wer könnte diesen Mangel beheben?
Meier: Da müssen die Migrationsbehörden im konkreten Fall die Interessen der betroffenen Frauen und die Familienstruktur besser berücksichtigen.

Beobachter: Was will der Bundesrat weiter ändern?
Meier: Er will Ehen von Unmündigen in der Schweiz verbieten und auch Zwangsheiraten, die im Ausland geschlossen wurden, unter Strafe stellen. In den mir bekannten Fällen wurden die Frauen alle im Ausland zur Ehe gezwungen.

Beobachter: Yasmin hätte also keine Strafanzeige wegen der Zwangsverheiratung einreichen können?
Meier: Zwangsheirat gilt als Nötigung – und die ist derzeit nur strafbar, wenn sie in der Schweiz begangen wird. Hingegen wäre ein Strafverfahren wegen der Drohungen denkbar gewesen, denen sie in der Schweiz ausgesetzt war. Die meisten Opfer sehen jedoch aus Angst und aufgrund fehlender Kraft von einer Strafanzeige ab.

*Name geändert

Yvonne Meier, 30, ist Rechtsanwältin in Baden und Autorin von «Zwangsheirat. Rechtslage in der Schweiz»; Verlag Stämpfli, 2010, 300 Seiten, 81 CHF (Privataufnahme)

Quelle: Thinkstock Kollektion

Zwangsheirat: Fakten und Vorschläge

Wie viele Fälle von Zwangsheiraten es in der Schweiz genau gibt, ist nicht bekannt. Die Stiftung Surgir, die sich gegen Zwangsheiraten einsetzt, schätzte 2006 die Anzahl Fälle auf 17'000. Ein Drittel der Opfer soll minderjährig sein (13 bis 18 Jahre alt).

Der Bundesrat verabschiedete Ende Februar die Botschaft zum Gesetz über Massnahmen gegen Zwangsheiraten. Neu soll mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt werden, wer jemanden zur Ehe zwingt. Zudem will der Bundesrat Eheschliessungen mit Minderjährigen in der Schweiz verbieten. Auch im Ausland geschlossene Ehen von Minderjährigen sollen nicht mehr toleriert werden. Zivilstandsbeamte müssen sich ausserdem künftig vergewissern, dass Mann und Frau die Ehe aus freien Stücken schliessen wollen.