An seine erste Pille erinnert sich Patrick*, ein ehemaliger Schüler der Berufsmaturitätsschule, noch ganz genau. Er nahm Ritalin im Zug, auf dem Heimweg von der Schule. «Zu Hause griff ich mir das Karteikästchen mit den 500 Vokabel-Kärtchen. Zwei Monate hatte ich die Aufgabe vor mir hergeschoben. Jetzt hatte ich richtig Lust auf die Vokabeln.» Er habe sich hingesetzt und die Zeit vergessen. «Vier Stunden später erwachte ich aus meiner Trance. Ich glaubte, eine Wunderdroge entdeckt zu haben», sagt er.

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Mit seinem Glauben ist Patrick nicht allein. Immer mehr gesunde Studierende greifen ins Medizinkästchen. Das zeigt eine aktuelle Untersuchung der Zürcher Forscherin Larissa J. Maier. Sie hat Studentinnen und Studenten der Universitäten Zürich und Basel sowie der ETH gefragt, ob sie schon einmal verschreibungspflichtige Medikamente, Alkohol oder illegale Drogen genommen hätten, um ihre geistige Leistung zu verbessern. 14 Prozent bejahten die Frage.

«Hirndoping ist eine Illusion»

Spitzenreiter unter den verschreibungspflichtigen Medikamenten war Ritalin. Vier Prozent der Befragten gaben an, sie hätten die Substanz mindestens einmal genommen, um besser lernen zu können. «Der Gebrauch von Medikamenten zur Steigerung der kognitiven Leistung ist an Schweizer Universitäten ein ernstzunehmendes Phänomen», sagt Maier.

Für Patrick wird Ritalin in der Zeit der Prüfungsvorbereitung zum ständigen Begleiter. Er bekommt das Medikament von einem Klassenkameraden, der sich bei einem Arzt ein Rezept beschafft hat. Dann der grosse Tag: die Maturitätsprüfung. Patrick besteht sie als Jahrgangsbester.

Die «Wunderdroge» scheint ihren Zweck erfüllt zu haben – doch wirklich klüger macht sie nicht. «Hirndoping ist eine Illusion. Das hat die Forschung längst bewiesen. Statt Ritalin zu schlucken, kann man ebenso gut ein paar Tassen Kaffee oder einen Energydrink trinken. Der Effekt ist derselbe: Man bleibt länger wach und ist motivierter», sagt Ralph Schumacher. Der ETH-Lernforscher hat alle Studien gesichtet, die sich mit dem Einfluss pharmakologischer Substanzen auf den Lernerfolg beschäftigt haben. Fazit: Keine einzige konnte einen signifikanten Effekt nachweisen.

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In mehreren Studien schnitt die Kontrollgruppe, die statt Ritalin ein Scheinpräparat bekommen hatte, sogar besser ab. «Ritalin hatte die Impulsivität der Versuchsteilnehmer so stark gesteigert, dass sie die Fragen gar nicht zu Ende lasen und so mehr Fehler machten», sagt Schumacher.

Genügend Schlaf und ein entspannter Zustand würden ausreichen, damit sich das Hirn in einem Zustand optimaler kognitiver Erregung befindet (siehe Infografik oben). «Ritalin macht Gesunde nicht klug, sondern bloss überheblich», sagt Schumacher. Derselbe Effekt sei, allerdings in stärkerem Masse, bei Kokain zu beobachten. Die Betroffenen haben nur den Eindruck, dass sie besser und schneller denken können.

Schumacher erläutert: «Wenn es darum geht, die Wirksamkeit solcher pharmakologischen Interventionen zu beurteilen, darf man sich auf keinen Fall bloss auf die Berichte der Versuchspersonen verlassen. Ausschlaggebend sind immer die Ergebnisse in den kontrollierten wissenschaftlichen Versuchen.»

Richtig büffeln statt Pillen schlucken

Hirndoping funktioniert nicht, weil das Gehirn kein Muskel ist. Höhere Aktivität bedeutet nicht notwendigerweise auch mehr Leistung. In mehreren Versuchen konnte mit bildgebenden Verfahren gezeigt werden, dass das Gehirn einer Person mit einem hohen IQ beim Lösen einer Aufgabe eine geringere Aktivität zeigt als das Hirn einer Person mit einem niedrigeren IQ. «Das Hirn der klügeren Person muss weniger arbeiten, weil die Informationen systematischer abgelegt sind», sagt Schumacher. Die Zauberformel heisst neuronale Effizienz. Wie produktiv unser Gehirn arbeitet, hängt davon ab, wie wir unser Wissen organisiert haben. Wenn wir Tiere statt nach ihren abstrakten Eigenschaften wie der Art der Fortpflanzung nur nach ihrem Aussehen klassifizieren, wie das Kinder tun, werden wir bestimmte Fragen nicht adäquat beantworten können.

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Klassische Lernmethoden, mit denen sich die systematisierte Aufnahme von Informationen trainieren lässt, schneiden in Vergleichstests durchs Band deutlich besser ab als vermeintlich leistungssteigernde Substanzen. «Versuchen Sie, neue Informationen mit Bekanntem zu verknüpfen, etwa indem Sie Eselsbrücken bilden. So holen Sie am meisten aus sich heraus», empfiehlt Schumacher.

Heute betrachtet auch Patrick seine Ritalin-Zeit kritisch. Er steht kurz vor dem Uniabschluss. «Ich wollte nicht leben wie ein Junkie. Der Preis war zu hoch: Ich bekam Kopfschmerzen und war sozial nicht mehr kompatibel.» In der Zwischenzeit hat er alternative Strategien entwickelt. Er habe sich Orte gesucht, an denen er lernen könne, ohne abgelenkt zu werden. «Und wenn ich dringend einen Energieschub brauche, gibts Kaffee oder ein paar Energydrinks.»

Zähmt Ritalin den Zappelphilipp?

Für Liam* sind solche Aufputschmittel  noch kein Thema. Der Viertklässler ist ein kluger, aufgeweckter, sozialer Junge, der seine kleine Schwester vergöttert und seine Katze liebt. Aber er hat ein Problem: ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom). Ruhig sitzen ist ihm unmöglich. Alle paar Minuten springt er auf, sucht sich etwas, um ein Schwert, ein Gewehr zu basteln – eine Gabel, einen Besen, egal. Ausser er nimmt Ritalin. «Mit den Pillen bin ich so, dass mich nicht alle Kollegen in meiner Klasse hassen», sagt Liam.

Seit 2000 hat die Abgabe von Ritalin um 810 Prozent zugenommen (siehe Infografik «Höhenflug des Ritalins»). Ritalin ist ein Markenname des Basler Chemiekonzerns Novartis, der Wirkstoff heisst Methylphenidat (MPH) und ist auch in Konkurrenzprodukten wie Concerta von Janssen-Cilag oder Equasym von Shire enthalten. Im letzten Jahr wurden rund 300'000 Packungen Methylphenidat im Wert von fast 20 Millionen Franken verkauft.

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«Es ist erstaunlich, wie viele Ärzte Ritalin verschreiben. Immerhin handelt es sich um ein Betäubungsmittel. Wer auf der Strasse damit handelt, macht sich strafbar», sagt Remo Largo. Es gebe tatsächlich Kinder, für die Ritalin ein Segen sei. Allzu viele Kinder bekämen jedoch Ritalin, so der Kinderarzt und Erziehungsexperte, weil sie den Erziehungsvorstellungen und Leistungsanforderungen nicht gerecht würden. «Das Problem sind nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen. Die Kinder sind so, wie sie schon immer waren.»

 

«Es ist erstaunlich, wie viele Ärzte Ritalin verschreiben. Immerhin handelt es sich um ein Betäubungsmittel.»

 

Remo Largo, Kinderarzt und Buchautor

Experten gehen davon aus, dass heute drei bis fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz an ADHS leiden. Das sind genauso viele wie in den siebziger Jahren, hält ein Bericht des Bundesamts für Gesundheit (BAG) fest. Buben galten damals – ebenso wie heute – als deutlich öfter von der Störung betroffen als Mädchen.

Bestätigt werden Ritalin-Kritiker auch durch die deutlich abweichende Anzahl Bezüger je nach Kanton. In ländlichen Gebieten schlucken in der Regel weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung das Medikament. Die fleissigsten Konsumenten sind die Schaffhauser und die Neuenburger – mit je 1,5 Prozent der Bevölkerung.

Im Tessin leben am wenigsten Ritalin-Bezüger. Experten sehen als mögliche Erklärung eine höhere Toleranz der südländisch geprägten Bevölkerung gegenüber hyperaktiven Kindern. Sind es also die Strukturen, die ADHS erzeugen? Wird ein natürliches kindliches Verhalten durch das gesellschaftliche System pathologisiert?

«Entscheidend ist der Leidensdruck, der auf den Kindern lastet», sagt Ronnie Gundelfinger, leitender Arzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Zürich. Legt man die Latte für die Verschreibung zu hoch, bekommen Kinder, denen Ritalin helfen würde, das Medikament nicht. Ist man zu grosszügig, riskiert man, dass Kinder Ritalin erhalten, die es gar nicht brauchen.

Die Zahnhygiene als Hinweis auf ADHS

Das Problem dabei: Es gibt keinen klinischen Test zur Diagnose. Bei Krankheiten mit klar körperlicher Ursache wie Diabetes geben die Blutwerte schnell und einfach Aufschluss, ob jemand krank ist. Die Aufmerksamkeitsstörung muss jedoch anhand von bestimmten Kriterien beurteilt werden: Macht das Kind viele Flüchtigkeitsfehler bei Schularbeiten? Rutscht es auf dem Stuhl herum? Kann es schlecht zuhören? Für die Diagnose ADHS muss jeweils eine bestimmte Anzahl Auffälligkeiten vorliegen.

Bei Erwachsenen können neben den Hauptsymptomen auch unverdächtige Merkmale auf ADHS hindeuten. «Ich achte bei meinen Patienten auch immer auf die Zähne. Über 30 Prozent der ADHS-Betroffenen haben eine schlechte Mundhygiene», sagt Dominique Eich-Höchli, leitende Ärztin der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Kopräsidentin der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS. «Natürlich wünschen wir Psychiater uns ein medizinisches Messverfahren für die Diagnose», sagt Eich-Höchli, «auf absehbare Zeit wird es das aber nicht geben.»

Ja oder nein? Die Leiden der Eltern

Trotzdem gelingt die Diagnose in der Schweiz recht gut. Zu diesem Schluss kommt zumindest ein Bericht des Bundesrats vom vergangenen November. «Methylphenidathaltige Medikamente werden Kindern und Jugendlichen mit ADHS mehrheitlich gemäss den Behandlungsempfehlungen der Fachliteratur abgegeben», heisst es dort. Doch wie erklärt sich die drastische Zunahme der Ritalin-Verschreibungen? «Die Ritalin-Therapie hat bei Kinder- und Jugendpsychiatern an Akzeptanz gewonnen. Der Unterschied zwischen den ländlichen und städtischen Kantonen könnte mit der besseren medizinischen Versorgung in den Städten zusammenhängen», sagt Anne Eckhardt, die im Auftrag des BAG den Einsatz von Ritalin in der Schweiz untersucht hat.

Nach der Diagnose ADHS müssen sich Eltern für oder gegen Ritalin entscheiden. Das bringt sie oft in arge Gewissensnöte. «Insbesondere meine Frau tat sich enorm schwer, das überhaupt nur in Betracht zu ziehen», sagt Urs Haab*. Sohn Florian* sei schon als ganz Kleiner immer in Bewegung gewesen, konnte keine Regeln einhalten. Die Spielzeugeisenbahn war nach wenigen Tagen zerstört, Bücher waren zerrissen, allein schon Knetbasteleien gerieten zum Desaster.

Die Eltern entschieden sich für die Pille. «Gerade als Florian das erste Mal Ritalin nahm, wollten wir Stühle mit blauer Farbe streichen», sagt Haab. Mit Kunstharzfarbe zu hantieren sei ein gewagtes Vorhaben gewesen. «Wir strichen in Seelenruhe diese Stühle, es kippte kein Farbtopf und kein frisch gestrichener Stuhl um, Florian rannte nicht mit dem tropfenden Pinsel davon, weil ihn irgendetwas ablenkte. Wir konnten die Arbeit von A bis Z in Frieden erledigen.» Nach anderthalb Stunden war die Familie stolz auf das gelungene Werk. «Ein gemeinsames Erfolgserlebnis der Extraklasse war das, denn wir kannten Florian als Kind, dem wenig wirklich gelingt», sagt Haab.

Die Rolle des Botenstoffs Dopamin

Bei ADHS-Kindern wie Florian scheint der gestörte Dopamin-Stoffwechsel eine wichtige Rolle zu spielen. Der Botenstoff überträgt Signale und damit Informationen zwischen den Nervenzellen. Bei Menschen mit ADHS ist die Konzentration des Botenstoffs zu niedrig. Ein grosser Teil des Dopamins wird von der «Senderzelle» absorbiert, bevor es Signale zur «Empfängerzelle» übertragen kann. Die Folge: Die Information fliesst langsamer. Methylphenidat hemmt die «Senderzelle» so, dass sie weniger Dopamin absorbieren kann. Die Konzentration im Körper steigt, die Informationsübertragung wird normalisiert.

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Warum jemand ADHS entwickelt, ist nicht geklärt. Experten vermuten eine genetische Komponente. So war bei ADHS-Kindern oft ein Elternteil hyperaktiv. Alkohol- und Nikotinkonsum während der Schwangerschaft sowie Diabetes und Bluthochdruck gelten als Risikofaktoren. Auch soziale und familiäre Strukturen werden als Ursache diskutiert. «Es ist die Frage nach dem Huhn oder dem Ei», sagt Kinderarzt Daniel Frey, der 25 Jahre lang die Schulgesundheitsdienste von Zürich leitete. Gerät eine Familie aus den Fugen, weil sie mit einem hyperaktiven Kind überfordert ist? Oder zeigt das Kind ADHS-Symptome, weil ihm die Familie keine klaren Strukturen gibt und sich keiner um seine Bedürfnisse kümmert?

«Der integrative Ansatz scheitert»

Auch die ständigen Reformen des Schulsystems haben ihren Anteil am Wachstum des Ritalin-Konsums. «Wie die geänderten familiären Strukturen die ADHS-Symptome verstärken können, haben auch die Schulreformen ihren Anteil an der zunehmenden Verbreitung von Ritalin in den letzten Jahren», ist Marion Heidelberger, Vizepräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, überzeugt. «Im Umgang mit hyperaktiven Kindern in der Regelklasse scheitert der integrative Ansatz. Die Erklärung ist einfach: In einer Kleinklasse entsprechen die Rahmenbedingungen den Bedürfnissen eines Kindes mit ADHS viel mehr: Bezugsperson, Strukturen, intensivere Betreuung. In der Regelklasse stören verhaltensauffällige Kinder oft so sehr, dass kein geregelter Unterricht mehr möglich ist. Der Druck auf die Eltern und der Leidensdruck der Kinder steigt», sagt Heidelberger. Sie ist selber Mutter zweier Kinder. «Wenn Sie den Alltag mit einem ADHS-Kind kennen, wissen Sie, wie ungeheuer schwierig und anstrengend das ist und wie heftig die Umwelt darauf reagiert.»

Wie sich der Konsum von Methylphenidat langfristig auswirkt, ist unklar. Manche Studien zeigen, dass Kinder dank Ritalin ein höheres Bildungsniveau erreichten und weniger oft zu Drogen griffen. Andere fanden keine positiven Effekte.

Die Zukunft sieht nach mehr Ritalin aus

Zumindest für die Pharma ist Methylphenidat langfristig wirksam. Novartis verkaufte davon letztes Jahr 211 Tonnen für rund 500 Millionen Franken. Damit zählt Ritalin hinter den Krebspräparaten zu den Verkaufsschlagern des Konzerns. Ritalin ist aber nur eine von vielen Psychopillen. Weltweit erzielten Novartis, Johnson& Johnson oder Shire 2014 mit Generika und Weiterentwicklungen rund 11,5 Milliarden Franken Umsatz. Vor einem Jahrzehnt war es nicht einmal die Hälfte gewesen. Und die Nachfrage nimmt weiter zu. Prognosen gehen von einem Anstieg des weltweiten Verkaufsvolumens bis zum Jahr 2020 um über 50 Prozent aus. 

* Name geändert